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Beitrag vom 11.07.2016
Fräulein Rühr-Mich-Nicht-An - Hubert und Kerascoët
Laura Seibert
Die Gesamtausgabe vereint vier Graphic Novels des französischen ZeichnerInnenpaars Kerascoët und des Szenaristen Hubert. Dem Mörder ihrer Schwester auf den Fersen, taucht Blanche ein in die trügerisch-bunte Welt eines Luxusbordells.
Blanche, wie ihr Name schon andeutet, ist bei weitem nicht so weltgewandt und lebenslustig wie ihre Schwester Agathe, die abends ausgelassen in den überfüllten Lokalen (Guinguettes) vor der Stadt tanzen geht. Tagsüber mit den unzählbaren Aufgaben ihrer Dienstherrin zugange, zieht es Agathe abends hinaus, in den Trubel, auf der Suche nach Vergnügen und interessanten Begegnungen. Auf dem Heimweg müssen Agathe und ihre Freundin Eugénie mitten in der Nacht den verlassenen Wald an der Marne entlang durchqueren. Dunkle Baumschatten, die aufs Wasser fallen. Auch für die Unerschrockenen eine Mutprobe, denn in letzter Zeit wütet der sogenannte Schlächter der Guinguettes. Abgesehen hat er es auf junge Frauen, die er ermordet und brutal zerstückelt.
Äußerst besorgt bittet Blanche ihre Schwester, abends zuhause zu bleiben. Natürlich ohne Erfolg. "Agathe ist meine ganze Familie. Sie sagt, das sei kein Grund, ständig auf ihr rumzuhacken." Ganz anders als ihre Schwester, verpasst sie einem nervigen Verehrer lieber direkt eine Ohrfeige - "BAFF!!".
Scheinbar Selbstmord
Als Agathe dann doch ermordet wird – und zwar in der Kammer unterm Dach bei ihrer Arbeitgeberin, beschließt Blanche ohne zu Zögern, dass sie den Mörder finden muss: Der Schlächter der Guinguettes steckt dahinter, darin ist sie sich sicher, denn Ungereimtes ging in dem verlassenen Haus neben dem der Madame vor sich. Beunruhigendes beobachtete sie durch ein verstecktes Loch in der Zimmerwand…
Gekündigt, denn alles sah nach Selbstmord aus, steht sie auf der Straße: Die Schande, die ihre Schwester über das Haus brachte, kann die Madame nicht dulden. Von der Freundin Eugénie ebenfalls im Stich gelassen, ist Blanche, die Schüchterne und Kompromisslose, auf sich selbst gestellt. Ohne Empfehlungsschreiben bleibt ihr eine neue Anstellung als Dienstmädchen verwehrt.
Und obwohl die Suche nach einem gesichts- und identitätslosen Mörder der Suche nach der Nadel im Heuhaufen gleicht, zweifelt sie keine Sekunde an ihrem Vorhaben. Dass ihrer Schwester Gerechtigkeit widerfahren soll, stellt alle Bedenken in den Schatten.
Die Jungfrau im Freudenhaus
Dieser Plan führt sie ins Pompadour, einem der teuersten und luxuriösten Bordelle der Metropole, in dem Blanche in kürzester Zeit zur gefragtesten Domina avanciert. "Beängstigend, die Kleine! Eine stählerne Jungfrau. Wenn man sie sieht, will man nur noch um Gnade flehen." Daher auch ihr Name: Fräulein Rühr-Mich-Nicht-An. Weder Männer noch Frauen dürfen sie berühren.
Als Neuankömmling wird ihr von den anderen Frauen im Bordell das Leben schwer gemacht. Freundschaft schließt sie nur mit der engelsgleichen Annette, die ihr, die Augenlieder niederschlagend, partout nicht verraten will, für welche Leistungen sie gebucht wird. Dafür weiht sie sie in andere Geheimnisse ein. "Du und sie, ihr seid auch Spezielle?", fragt Blanche ihre neugewonnene Freundin bei einem Rundgang durch das labyrinthgleiche Bordell, als sie die schöne Joséphine mit dem Puderspiegel auf der Galerie sehen. "Sie ist noch viel spezieller als du und ich.", erwidert Annette. "Weil sie schwarz ist?" "Oh nein! Mademoiselle Joséphine ist ein Madame-Monsieur. Die Perle des Hauses."
Hinter den Kulissen des Luxus und der gekauften Lust versucht Blanche zu ermitteln. Und stößt dabei auf zahlreiche Widerstände. Nie kann sie sicher sein, wem Vertrauen gebührt, wer eine weitere Intrige im Schilde führt oder ihr schaden will. Aber sie ist im Pompadour auf der richtigen Spur…
Vier Geschichten über Blanche
Die im April 2016 beim Berliner Verlag Reprodukt erschienene Gesamtausgabe vereint in einem Band alle vier Geschichten der "Fräulein Rühr-Mich-Nicht-An", die erstmals in den Jahren 2010 bis 2011 einzeln veröffentlicht wurden. Auf Die Jungfrau im Freudenhaus folgen:
Blut an den Händen
Der Märchenprinz
Bis dass der Tod uns scheidet
Vierundzwanzig Seiten Skizzen im Anhang legen die ausführliche Arbeit zu den Charakteren und der Umschlagsgestaltung offen. Auch ohne diese Skizzen wird das herausragende Talent der ZeichnerInnen sichtbar, welche die Mimik der Charaktere teilweise fast karikierend, sehr detailliert und individuell portraitieren. Die spannend inszenierten Geschichten fesseln, die Komposition der Zeichnungen ist genau getroffen. Farblich durch die gelungene Gestaltung von Hubert eingefangen, wechseln die emotionalen Ambiente vor allem, aber nicht nur zwischen Verzweiflung, Ausgelassenheit und völliger Überforderung.
AVIVA-Tipp: Eine Krimi-Graphic Novel voller Rückschläge, Intrigen und Verbrechen, ohne Happy End. Phantasievolle Bildwelten und tiefgründige Charakterstudien überraschen die Leserin gleichermaßen in diesen vier dichten, sogartigen Stories. Wie in "Beauté" setzt das ZeichnerInnen-Duo in "Fräulein Rühr-Mich-Nicht-An" besonders schöne Frauen in Szene. Ebenso lenken sie einen kritischen Blick auf die gesellschaftliche Stigmatisierung von Homosexualität.
Die KünstlerInnen: Unter dem Namen Kerascoët arbeiten und veröffentlichen die ZeichnerInnen Marie Pommepuy (1978) und Sébastien Cosset (1975) gemeinsam. Kerascoët ist ursprünglich ein kleiner Ort in der Bretagne, an dem Marie Pommepuy aufwuchs. Mit achtzehn Jahren zog sie nach Paris, um Angewandte Kunst und später wissenschaftliches Zeichnen zu studieren. In dieser Zeit traf sie auf den Architekturstudenten Sébastien Cosset.
Mehr Informationen zu ihrer Arbeit im Netz unter: kerascoet.fr
Der Künstler Hubert (Hubert Boulard, geboren 1971), der die Farben und das Szenario gestaltete, schreibt seit 2002 Comics. Hubert im Netz: www.reprodukt.com
Fräulein Rühr-Mich-Nicht-An
Originaltitel: Miss Pas Touche – L´Intégrale
Hubert & Kerascoët
Aus dem Französischen von Kai Wilksen
Handlettering von Dirk Rehm
Reprodukt, erschienen im April 2016
ISBN 978-3-95640-072-8
224 Seiten, in Farbe, Hardcover
39,00 Euro
www.reprodukt.com
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