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Beitrag vom 25.07.2016
Gunna Wendt - Die Bechsteins. Eine Familiengeschichte
Ahima Beerlage
Der Name Bechstein ist eng verbunden mit der Musikwelt und der Stadt Berlin. Gunna Wendt hat die wechselvolle Geschichte der großen Klavier- und Flügelbauerdynastie nachgezeichnet. Dabei sparte sie auch die unrühmliche Rolle von Edwin und Helene Bechstein nicht aus, die schon früh...
... zu den FörderInnen der Nazis gehörten.
Anfang und Mitte des 19. Jahrhunderts werden zwei unterschiedliche Familienmitglieder der Familie Bechstein geboren: 1801 Ludwig Bechstein als unehelicher Sohn einer Bechstein und eines französischen Emigranten. Er sollte später ein vielgelesener Autor werden und es sich zur Aufgabe machen, mit der Erforschung deutscher Sagen "das Land der Deutschen" zusammenzuführen. Zu seinen Entdeckungen gehörte auch die die "Tannhäuser" Sage, die später Richard Wagner zu einer Oper inspirieren sollte. Und dieser Richard Wagner sollte ein Freund und Förderer des anderen Zweigs der Bechsteins werden. Carl, Sohn eines Friseurs und seiner Frau Christiane Ernestine Auguste, wurde 1826 geboren und stieg wegen seines überragenden musikalischen Gehörs und seines handwerklichen Talents zu einem der größten Flügel- und Klavierproduzenten der Welt auf.
Kreative Synergien
Nach einer Lehre zum Klavierbauer machte sich Carl 1853 mit einer eigenen Werkstatt selbständig. Die Epoche der Gründerzeit war "die Hochphase des Liberalismus in Europa, das Bürgertum gab kulturell den Ton an". Doch Carls Aufstieg wäre nicht möglich gewesen, hätte er nicht eine so ungewöhnliche Frau an seiner Seite gehabt. "Louise passte in kein Schema. …Sie machte den Ehrgeiz ihres Mannes zu ihrem eigenen und verstand sich vor allem als seine Kameradin, der es nicht reichte, ihren häuslichen Pflichten nachzukommen." Durch ihre Unterstützung hatte er den Kopf frei, Netzwerke zu spinnen, sich mit Pianisten und Komponisten auszutauschen. Zu seinen Freunden und Förderern gehörten Hans von Bülow, Carl Tausig, Franz Liszt und Richard Wagner. Von Bülow war damals ein gefeierter Interpret ganz neuer Klavierstücke, die durch ihre Virtuosität und Klanggewalt auch den gebräuchlichen Flügeln viel abverlangte. In beinahe jedem Konzert ruinierte er ein Instrument. Hier lag nun die Herausforderung für Carl Bechstein. Indem er die Rahmen verstärkte, schuf er Instrumente, die hohen Belastungen gewachsen waren und die mehr als ein Konzert überlebten. Das forderte wiederum Komponisten wie Franz Liszt heraus, noch anspruchsvollere Stücke zu schreiben. Schon bald sprach sie herum, dass Bechstein herausragende Flügel baute und immer mehr berühmte Namen wollten auf seinem Instrument spielen. Der Aufstieg Bechsteins zum Weltunternehmen nahm seinen Lauf. Bechstein expandierte an vielen Standorten, in Berlin, London und Paris - nicht zuletzt, weil das Bürgertum das Klavier zum Statussymbol erhob. Die Töchter lernten neben Fremdsprachen und Haushaltsführung auch das Klavierspiel.
Bruderzwist
Der Erfolg der Firma schien niemals abzureißen, auch nicht nach dem Tod des Firmengründers 1901. Seine drei Söhne übernahmen sein Lebenswerk – Carl jun. den Instrumentenbau, Edwin die kaufmännische Leitung, Johannes starb bereits früh. Doch der Erste Weltkrieg stürzte das Unternehmen in seine erste Krise. Die Auslandsfilialen in Frankreich und England mussten schließen, die Menschen hatten andere Dinge als das Klavierspiel im Kopf. Edwin schied nach einem Streit 1916 aus dem Unternehmen aus, kaufte sich 1923 aber wieder ein.
Nazinähe und Neuanfang
Edwins Frau Helene gehörte schon früh zu den Anhängerinnen und Förderinnen von Adolf Hitler. Sie besuchte ihn sogar nach dem Putschversuch in der Festungshaft und verhalf Hitler in der Aufnahme in die Berliner Gesellschaft. Zwar distanzierte sich die Firma offiziell von der Haltung Edwins und seiner Frau, erlaubte es aber, dass sie sich später wieder ins Unternehmen einkaufen konnten. Nach dem Krieg entnazifizierten die Amerikaner das Unternehmen und beschlagnahmte das Firmeneigentum, hob aber 1951 die Beschlagnahme wieder auf. Immer mehr zog sich die Firma aus Berlin zurück und verlagerte ihre Standorte nach Westdeutschland. Gegenwärtig arbeitet kein Bechstein mehr in dem Unternehmen.
Große Geschichte mit braunen Flecken
Die Geschichte der Bechsteins liest sie wie ein "Who is Who" der Gründerzeit in Deutschland. Faszinierend ist, wie der Handwerker und akribische Netzwerker Carl Bechstein die Sorgen und Nöte der InterpretInnen und KomponistInnen seiner Zeit verstanden hat. Dubios aber bleibt die Geschichte der Nachkommen. Die Faszination des Ehepaars Helene und Edwin Bechstein für den aufstrebenden Diktator Hitler ist aus unserer heutigen Sicht schwer zu ertragen. Und hier liegt eine Schwäche des Buches. Während die frühen Jahre Carls so detailgetreu wiedergegeben werden, bleiben einige Winkelzüge der Familie während und nach der Nazizeit im Zwielicht. Hier bleibt das Buch einige Erklärungen schuldig.
Zur Autorin: Gunna Wendt lebt als freie Schriftstellerin und Ausstellungsmacherin in München. Neben ihren Arbeiten für Theater und Rundfunk veröffentlichte sie Kurzgeschichten, Gedichte, Essays und Biografien, unter anderem über Liesl Karlstadt, Helmut Qualtinger, Clara Rilke-Westhoff, Paula Modersohn-Becker, Maria Callas, Franziska zu Reventlow, Lou Andreas-Salomé, Lena Christ, Ruth Drexel, Maria Pawlowna und Zarin Alexandra. (Quelle: Homepage von Gunna Wendt)
Die Autorin im Netz: www.gunna-wendt.de
AVIVA-Tipp: Stadtgeschichten sind immer auch Familiengeschichten. In der Familiengeschichte der Bechsteins wird die Gründerzeit Berlins und der Aufstieg des Bürgertums lebendig. Es wird aber auch der Sündenfall des Bildungsbürgertums vor dem Faschismus deutlich. Helene Bechsteins Faszination für Hitler ist bedrückend naiv. Immer wieder wird die Chronik auch durch Interviews mit KünstlerInnen der Gegenwart unterbrochen, die ihre eigene Erfahrungs- und Liebesgeschichte mit einem Bechstein-Instrument hatten und haben. "Die Bechsteins" ist durch ihre sorgfältige Recherche und ihre fast nüchterne Sprache eine historisch faszinierende Lektüre.
Gunna Wendt
Die Bechsteins. Eine Familiengeschichte
Gebunden mit Schutzumschlag, 301 Seiten
Aufbau Verlag
ISBN: 978-3-351-03613-3
24,95 €
www.aufbau-verlag.de
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