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Beitrag vom 19.10.2016
Celeste Ng - Was ich euch nicht erzählte
Bärbel Gerdes
Die mehrfach ausgezeichnete amerikanisch-chinesische Schriftstellerin schreibt über das Schweigen, über all das Ungesagte in Familien, das verheerende Folgen hat. "Lydia ist tot." Dieser Satz ist der Auftakt zu einem Roman, der uns in das Innerste einer Familie und seiner Mitglieder_innen führt.
Die Leiche Lydias, der Lieblingstochter des Ehepaares James und Marilyn Leewar, wird von der Polizei im nahegelegenen See gefunden. Es ist nicht sicher, ob es sich um Mord oder Selbstmord handelt. Für die Familie ist das Eine so unwahrscheinlich wie das Andere.
Celeste Ng (sprich: Ing) entwirft in ihrem Roman meisterinnenhaft ein Kammerspiel über die heimlichen Abgründe in einer Familie, vom Schweigen und dessen Fehlinterpretationen, von Einsamkeit und Vernachlässigung.
James, der Vater, ist Sohn chinesischer Einwanderer, der Zeit seines Lebens unter seiner Außenseiterrolle leidet. Schon, dass sein Aussehen ihn ständig fremd und "anders" sein lässt, hasst er. Umso wichtiger ist es ihm, in der Gesellschaft dazuzugehören. Dies scheint sich zu verwirklichen, als er Marilyn an der Universität kennenlernt. "... auch wenn er es nie ganz begreifen sollte, war dies der erste Grund, warum er sich in sie verliebte: Weil sie so ganz und gar dazugehörte, weil sie so absolut und überaus normal war."
Tragisch ist, dass Marilyn ihn genau wegen seines Andersseins liebt: "Etwas in ihr sagte: Er weiß, wie es ist, anders zu sein." Und noch verheerender, dass die beiden genau darüber nie miteinander reden.
All diese verborgenen Wünsche werden auf die Kinder projiziert: auf Lydia, die die Erwartungen und die missglückte Karriere der Mutter ausleben soll, die sich für die Familie entschieden hat; auf Nathan, dem Ältesten, der das verwirklichen soll, was sein Vater nie schaffte, und auf Hannah, der stillen, unsichtbaren Tochter, die nicht zu existieren scheint und deshalb umso schärfer beobachtet, was in der Familie vor sich geht.
Celeste Ng reichert ihren Roman mit der Lebensrealität chinesischer Einwanderer_innen in den USA an. Vom Ende der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges hatte der amerikanische Kongress die Zuwanderung chinesischer Migrant_innen aus Furcht vor einer zu "gelben" Bevölkerung verboten. "Nur die Kinder von bereits in den Staaten Ansässigen durften kommen." Chinesinnen und Chinesen mussten sich ins Land mogeln und lebten unter der ständigen Gefahr, enttarnt zu werden.
Diese Angst trägt James tief in sich – und die Sehnsucht, nicht aufzufallen.
Die Autorin Celeste Ng weiß, wie es sich anfühlt, als anders wahrgenommen zu werden. Sie selbst wuchs in einer vornehmlich weißen Nachbarschaft in Pittsburgh, Pennsylvania und in Shaker Heights, Ohio als Tochter zweier Wissenschaftler_innen aus Hongkong auf. Ihre Eltern kamen Ende der 1960er Jahre in die USA. In Celestes Klasse gab es nur zwei Schülerinnen, die nicht weiß waren: sie und ein afro-amerikanisches Mädchen.
Ihr mit Auszeichnungen überhäufter Debutroman spielt im Ohio der 1970er Jahre, doch die Autorin erzählt in einem Interview mit dem Guardian, dass es hinsichtlich des dargestellten Rassismus´ keinen Unterschied bezüglich der Zeit gäbe.
Sie selbst fühle sich der chinesischen Kultur nicht verbunden. Sie spricht die Sprache nicht, sie kocht kein chinesisches Essen und weiß kaum etwas über chinesische Traditionen und Gewohnheiten. Dennoch hat sie die Empfindung, in Amerika nicht wirklich zu Hause zu sein.
Dies erstaunt nicht, wenn man die Ergebnisse einer Studie über die Haltung von Amerikaner_innen bezüglich Chines_innen sieht. Die 2001 durchgeführte Befragung ergab, dass 75% eine leicht negative oder gar stark negative Einstellung gegenüber dieser Bevölkerungsgruppe hat und dass sich 23% der Befragten mit der Vorstellung unwohl fühlten, eines ihrer Familienmitglieder könne eine_n Asien-Amerikaner_in heiraten.
Dass sich dies auch auf Ehepartner_innen aus unterschiedlichen Kulturen auswirkt, macht Was ich euch nicht erzählte deutlich. Und auch, dass die Einstellung der übrigen Familienmitglieder diese Ehen beeinflusst, stellt Ng am Beispiel Marilyns Mutter dar: "Denk an deine Kinder", sagte sie. "Wo wollt ihr leben? Ihr werdet nirgendwo hinpassen. Du wirst es dein Leben lang bereuen."
Umso stärker ist James Wunsch, dass zumindest seine Kinder das Leben leben, das er sich für sich wünscht. Seine Enttäuschung über seinen Sohn, der "zu dünn für das Footballteam war, zu klein für das Basketballteam, zu ungeschickt für das Baseballteam" und der es vorzog, zu lesen und zu studieren, statt Freund_innen zu finden, führt zu Wechselbädern zwischen Wut und Beschützenwollen.
Die sich anpassende Lydia indes spielt der Familie das Leben vor, das diese sich erhofft – ohne es zu leben. Erst ihr Tod führt dazu, dass der Familie ihre Lügen im die Ohren fliegen.
AVIVA-Tipp: Brillant erzählt Celeste Ng von den Verheerungen übertragener Wünsche und unausgesprochener Leiden - ein spannender und nachdenklich stimmender Roman.
Zur Autorin: Celeste Ng wuchs in Pennsylvania und Ohio auf. Sie studierte Englisch in Harvard und erlangte an der Universität von Michigan ihren Mastergrad. Neben Kurzgeschichten, die mit dem Hopwood Award ausgezeichnet wurde, erhielt sie für ihren Debutroman Everything I never told you, der 2014 erschien, zahlreiche Auszeichnungen, darunter New York Times Bestseller, New York Times Notable Book of 2014, Amazon´s ´#1 Best Book of 2014, Asian/Pacific American Award of Literature u.a. Er wurde in 15 Sprachen übersetzt. Ihr zweiter Roman "Little Fires Everywhere",wird bei Penguin Press im Herbst 2017 veröffentlicht.
Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Cambridge, Massachusetts und arbeitet zurzeit an ihrem zweiten Roman, "Little Fires Everywhere", der im Herbst 2017 bei Penguin Press veröffentlicht wird.
Mehr zur Autorin unter: www.celesteng.com
Zur Übersetzerin: Brigitte Jakobeit, Jahrgang 1955, überträgt seit 1990 englischsprachige Literatur ins Deutsche. Unter den von ihr übersetzten Autor_innen gehören Patti Smith, Miles Davis, Nina Simone, William Trevor und viele andere. Mehrfach wurde sie mit dem Hamburger Förderpreis für literarische Übersetzungen und mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Sie lebt in Hamburg.
Celeste Ng
Was ich euch nicht erzählte
Originaltitel: Everything I Never Told You
Aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit
DTV, erschienen am 27.5.2016
Gebunden, 288 S. Auch als E-Book erhältlich
ISBN 978-3-423-28075-4
19.90 Euro
www.dtv.de