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Beitrag vom 07.12.2016
Amanda Lee Koe - Ministerium für öffentliche Erregung. Storys
Hannah Hanemann
Das Debut der 1987 in Singapur geborenen, preisgekrönten Schriftstellerin gibt der Leserin Einblick in so viele Leben und Geschichten, dass es sich fast anfühlt, als würde sie in ein Kaleidoskop aus Emotionen und Stimmungen hinein gesogen und...
.. in ihnen herum gewirbelt. Diesem Sog kann mensch sich schwer entziehen - will es aber auch nicht!
Es geht um ziemlich viel in Amanda Lee Koes Kurzgeschichtensammlung "Ministerium für öffentliche Erregung." Um große Liebe, Alltagsromantik, Tod, Sex, Unterwerfung und Freiheit. Vor allem jedoch geht es in allen Geschichten um zwischenmenschliche Beziehungen unterschiedlichster Ausprägungen.
Die tragisch-romantische Einstiegsstory "Flamingo Valley" erzählt in nicht-chronologischen Fragmenten von der über mehrere Jahrzehnte andauernden unerfüllten Liebe eines alternden Rockstars zu einem chinesischen Mädchen.
Drastischer ist die Geschichte der vergangenen Liebe zwischen einer Kuratorin und einem Künstler, dessen Installation "Karussell" das "unvermeidliche und zynische Scheitern von Beziehungen" auf möglichst blutige und ekelerregende Weise darstellen soll.
Freude und Leid lösen sich in Amanda Lee Koes Kurzgeschichten in rasendem Tempo ab. So folgt auf die eher unschuldig anmutende Erzählung eines jungen Paares, die sich für jedes ihrer Dates in einem anderen Garten oder Park Singapurs verabreden, die verstörende Geschichte einer jungen Frau, die, nach einer Gruppenvergewaltigung durch vier Männer, eine Stelle als Hausmädchen annimmt und mit Hilfe ihres Menstruationsblutes in dessen Kaffee den Hausherrn verführt.
Gemein ist diesen Geschichten eine klare und unsentimentale, oft lyrische Sprache, auch wenn Erzählperspektive und Tempus von Geschichte zu Geschichte wechseln. In den meisten von ihnen sind es weibliche Schicksale oder Perspektiven, die beleuchtet werden, nicht analytisch oder wertend, sondern eher so, als würde eine Tür geöffnet, hinter der frau/man einen kurzen Blick auf das Leben oder die Gefühle der Protagonistin werfen kann, bevor sich die Tür unvermittelt wieder schließt.
Liebe ist keine große Wahrheit
Die Intensität der Geschichten speist sich vor allem aus der nüchternen Beschreibung sowohl schockierender als auch anrührender Ereignisse. Die unvergängliche Liebe eines Musikers wird ebenso trocken geschildert, wie die Zerstörungswut einer Autobombe vor einer Kunstgalerie. Gerade dieser nüchterne Schreibstil jagt der Leserin bei jeder unerwarteten Wendung, wie der verstörend emotionslos geschilderten Vergewaltigung der jungen Frau, Schauer über den Rücken. Gleichzeitig rühren die Wünsche und Sehnsüchte der ProtagonistInnen an und lassen sie greifbar und real erscheinen.
"Es gibt auf der ganzen Welt kein ´Ich kann ohne dich nicht leben, du kannst ohne mich nicht leben.´ Die Erde dreht sich. Zeit vergeht. Reis wird gegessen. Wer kann das widerlegen?" - so beginnt die Geschichte einer Frau, die nach einem Unfall, der ihr Gesicht entstellte, von ihrem Mann verlassen wird und nach dem Auszug ihrer Tochter das erste Mal vollkommene Freiheit in ihrer plötzlichen Einsamkeit erfährt.
Die Geschichte trägt den Titel: "Liebe ist keine große Wahrheit" und so ernüchternd wie ihr Titel sind auch die Schlüsse, die die Protagonistin aus ihrem Leben zieht:
"Ich gab mein Bett weg. Depression ist leicht wenn man ein Bett hat. Jetzt geht es mir gut. Auf dem Boden kann man gut schlafen."
Einsamkeit, Wut, Trauer und Resignation werden in diesen vier Sätzen so unerbittlich in ihr Gegenteil verkehrt, in die vermeintlich einfache Lösung einer Lebenskrise, dass sich die Leserin gerade dadurch mit aller Wucht von ihnen überrollt fühlt.
Ohne Kitsch oder Pathos gelingt es Amanda Lee Koe, mit jeder Geschichte eine neue Welt zu erschaffen, die so scharf und detailliert gezeichnet ist, dass ihre Figuren eine Glaubhaftigkeit besitzen, als sähen wir sie direkt vor uns. Es ist die Vermischung von Gegensätzen, die den Geschichten ihre Lebendigkeit einhaucht. Die Themen Leben und Tod, Liebe und Schmerz, Freiheit und Einsamkeit, Macht und Unterwerfung werden angesprochen, nie ausgesprochen, und jagen einander durch die Schilderungen menschlichen Lebens.
AVIVA-Tipp: Amanda Lee Koes "Ministerium für öffentliche Erregung" entführt die Leserin in bizarre, faszinierende und anrührende Ereignisse im Leben völlig unterschiedlicher Menschen in Singapur und lohnt auf jeden Fall, gelesen zu werden.
Zur Autorin: Amanda Lee Koe wurde am 08. Oktober 1987 in Singapur geboren und lebt heute abwechselnd in ihrer Geburtsstadt und New York.
2014 erhielt sie für "Ministerium für öffentliche Erregung" als jüngste Gewinnerin den Singapore Literature Prize for English Fiction. Ihr Storyband stand außerdem auf der Longlist für den Frank O´Connor Award und wurde 2015 von der Business Times unter die zehn besten englischen Bücher Singapurs der letzten fünfzig Jahre gewählt. Seit Winter 2016 führt er außerdem die Litprom Bestenliste "Weltempfänger" auf dem Ersten Platz an.
Amanda Lee Koe arbeitet zusätzlich als Literaturredakteurin für den Esquire Singapore und als Herausgeberin ihres eigenen Literaturjournals Ceriph.
Zur Übersetzerin: Zoë Beck, als Henrike Heiland 1975 in Ehringshausen geboren, studierte englische und deutsche Literatur u.a. in Gießen, Bonn und Durham. Inzwischen schreibt sie eigene Bücher, übersetzt und leitet zusammen mit Jan Karsten CulturBooks – elektrische Bücher. Für ihr eigenes Werk hat sie bereits einige Preise und Nominierungen einheimsen dürfen, unter anderem 2010 den Friedrich-Glauser-Preis in der Sparte "Bester Kurzkrimi" und 2016 den dritten Platz des Deutschen Krimipreises für ihren Thriller "Schwarzblende".
Amanda Lee Koe
Ministerium für öffentliche Erregung . Storys
Originaltitel: Ministry of Moral Panic
Aus dem Englischen von Zoë Beck
CulturBooks unplugged, erschienen im September 2016
Hardcover, 224 Seiten, Fadenheftung, Lesebändchen
ISBN 978-3-95988-018-3
22,00 Euro
www.culturbooks.de
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