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Beitrag vom 14.12.2016
Yoko Tawada - akzentfrei
Ahima Beerlage
Am 20. November 2016 wurde der japanischen Autorin, die in Berlin lebt, der Heinrich-von-Kleist-Preis verliehen. Wie kaum eine andere nutzt sie ihre Mehrsprachigkeit, um uns die Schönheit und auch die Skurrilität der Sprache nahe zu bringen.
Der Name ist Programm
"Der Akzent ist das Gesicht der gesprochenen Sprache…Es ist nicht meine Aufgabe, eine regionale Färbung, einen ausländischen Akzent, einen Soziolekt und einen Sprachfehler medizinischer Art voneinander zu unterscheiden. Stattdessen schlage ich vor, jede Abweichung als eine Chance für die Poesie wahrzunehmen." In ihrem neuesten Buch geht Yoko Tawada mit sprachlicher Sinnlichkeit den Eigenheiten der gesprochenen und der geschriebenen Sprache nach.
Deutsch neu statt Neudeutsch
Der schmale Band mit Essays ist in drei Abschnitte eingeteilt. Im ersten Abschnitt ´In einem neuen Land´ geht sie sprachlichen Eigenheiten im Raum, Okkupationen und Verwirrungen nach. Ihr Blick von außen, verwurzelt in einer anderen Muttersprache, nimmt die Wörter und Redewendungen der deutschen Sprache ins Visier, beleuchtet sie von einer anderen Seite, um sie den LeserInnen zu entfremden und Platz für neue Definitionen zu schaffen. Ganz nebenbei hebt sie dabei Schein-Gewissheiten und Binnenwahrnehmung auf. So auch in ihrem ersten Essay ´Setzmilch´, in dem sie die Reise des Begriffes ´Joghurt´ über den europäischen Kontinent nachverfolgt. Das Bakterium zur Verwandlung von Milch zu Joghurt wurde in Bulgarien erfunden, nach Deutschland importiert, gilt aber in vielen europäischen Ländern als griechische Spezialität. Vermarktet wurde Joghurt am stärksten in Deutschland, so dass der deutsche Joghurt heute in bulgarischen Supermärkten im Regal steht. Im Essay ´Transsibirische Rose´ wird eine besondere Rosen Art jeweils nach ihrer regionalen Ausbreitung benannt. Ob die einzigartige Arbeit von Jacob Grimm und seiner Aufzeichnung der mündlich überlieferten Märchen oder die Schwierigkeiten, Gefühle in Übersetzungen zu transportieren – Yoko Tawadas assoziativer Umgang mit Sprache eröffnet den Lesenden neue Horizonte.
Deutsch für Fortgeschrittene
In den Abschnitten ´Nicht vergangen´ beschäftigt sie sich damit, wie in bestimmten Konstellationen von Raum und Zeit die Arbeit mit Sprache erschwert oder erleichtert werden kann. So denkt sie in ihrem Essay ´Die unsichtbare Mauer´ über Zensur nach. "Wenn es eine sinnvolle Ausbildung für Autoren geben sollte, dann müsste die Mauerwissenschaft" ihr Pflichtfach sein. Wie schreibt man kodierte Lyrik, die durch ein dichtes Netz der Zensur kommt?"
Mythos und Kultur
Im dritten Abschnitt ´Französischer Nachtisch´ setzt sie sich mit Roland Barthes "Mythen des Alltags" auseinander. "Erst werden Emotionen für eine Nation durch die Medien geschürt, dann werden sie auf einen Menschen gegossen, der dieser Nation zuzuordnen ist, selbst wenn er kein Opfer ist. Die Medien hätten ohne Mythen nicht geschafft, den privaten Raum der Emotionen zu erobern." Im letzten Essay ´Claude Lévi-Strauss und der japanische Hase´ beschäftigt sie sich mit der Sichtweise des Anthropologen, und fragt, ob es möglich ist, eine Kultur wirklich zu durchdringen, wenn man nicht in ihr aufgewachsen ist. Eine Frage, die Yoko Tawada auf ihre ganz eigene poetische Weise beantwortet.
AVIVA-Tipp: Ein kleiner Band, der es in sich hat. Yoko Tawada, eine poetische Seiltänzerin zwischen den Kulturen, eröffnet in ihrer Vielsprachigkeit völlig neue Perspektiven für das (Selbst)verständnis der deutschen Sprache. Assoziation und Analyse umtanzen sich dank Yoko Tawadas ausgeklügelter Sprache. Auch in diesen Essays schickt Yoko Twada die LeserInnen auf eine Till-Eulenspiegel-Reise durch die deutsche Sprache: Einfach einmal das gesprochene oder geschriebene Wort wörtlich zu nehmen.
Zur Autorin: Yoko Tawada wurde 1960 in Tokyo geboren und lebt seit 1982 in Hamburg, seit 2007 in Berlin. Studium der Literaturwissenschaften in Tokyo und Hamburg, Promotion. Erste literarische Veröffentlichungen 1986 in "Japan-Lesebuch". Erste Buchveröffentlichung in Deutschland 1987 ("Nur da wo du bist da ist nichts"), in Japan 1992 ("Sanninkankai"). Sie schreibt in deutscher und japanischer Sprache. Bis 2013 erschienen 22 Bücher in deutscher Sprache. Zahlreiche Literaturpreise. Am 20. November 2016 erhielt sie von Ulrike Ottinger den Heinrich-von-Kleist-Preis.
Yoko Tawada im Netz: yokotawada.de
Yoko Tawada
akzentfrei. Literarische Essays
konkursbuch Verlag, erschienen 2016
Taschenbuch, 160 Seiten
ISBN: 978-3887695576
12.00 Euro
www.konkursbuch.com
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Yoko Tawada-Etüden im Schnee
Ein Roman, in dem der Berliner Eisbär Knut als denkender und sprechender Protagonist auftaucht? Wer ein einziges Mal die hingerissene Knut-Fangemeinde erlebt hat, die zu dessen Lebzeiten Zoo, Talkshows und Radiosendungen unsicher machten, hat an diesem Plot wahrscheinlich zunächst wenig Interesse – es sei denn, sie oder er gehört selbst zu den Knut-VerehrerInnen. (2014)
Yoko Tawada - Mein kleiner Zeh war ein Wort. Theaterstücke
Wörter als reines Rohmaterial, aus dem sich Aussagen zusammenbauen lassen: Diese pragmatische Sicht auf die Sprache teilt Yoko Tawada nicht. Ihre Texte machen deutlich, dass jedes Wort mehr als eine Bedeutung hat, dass es sich lohnt, beim Schreiben innezuhalten und nachzuhören, was eigentlich noch alles in diesem Begriff oder jener Wendung steckt. (2013)
Literatur ohne Grenzen. Interkulturelle Gegenwartsliteratur in Deutschland, herausgegeben von Immacolata Amodeo, Heidrun Hörner, Christiane Kiemle
Grundlage des Bandes sind die Beiträge zu einem Literaturfestival, das im Herbst 2008 in Bremen stattfand. Auf der "Globale – Festival für grenzüberschreitende Literatur" waren AutorInnen (darunter Yoko Tawada) unterschiedlicher thematischer und stilistischer Ausrichtung und Herkunft vertreten. (2009)