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Beitrag vom 27.12.2016
Julius H. Schoeps, Begegnungen
Yvonne de Andrés
Der Historiker und Direktor des Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien in Potsdam, Julius H. Schoeps, trifft in seinem Buch zwanzig Menschen, die entscheidend seinen Lebensweg kreuzten. In den Portraits beleuchtet Schoeps die deutsch-jüdische Beziehungsgeschichte...
... und erzählt vom Zusammentreffen mit ganz unterschiedlichen Intellektuellen und deren Ringen um das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden.
Es handelt sich bei seinen GesprächspartnerInnen meist um überlebende und geflüchtete Juden. Fünf Themenfelder greift Schoeps auf: "Der (Nicht)Anfang nach dem Ende", "Das Nachdenken über die Katastrophe", "Das Antisemitische Vorurteil", "Im Schatten der Vergangenheit" und "Dem Leben einen Sinn geben".
Mit dem Publizisten, Ideengeber und Mahner Ernst J. Cramer, der hinter den Kulissen des Axel-Springer-Konzerns wirkte, beleuchtet Schoeps die Zeit nach 1945 und fragt danach, warum Cramer sich entschied, in Deutschland zu bleiben und am demokratischen Wiederaufbau mitzuwirken. Schoeps schreibt: "Ernst Cramer begriff sich Zeit seines Lebens als ein deutscher Jude, dem allerdings bewusst war, dass das deutsche Judentum von ehedem nicht mehr existiert." "Das alte deutsche Judentum" schrieb Cramer am 04.10.2007 an Schoeps, "das Leute wie Sie und ich noch repräsentieren, ist wahrlich tot. Es wurde von Adolf Hitler und seinen Kumpanen ´ausgelöscht´". Auch Schoeps ist der Meinung, dass das deutsche Judentum, das in der Tradition von Heine und Börne stand, nicht mehr existiert. Das heutige Judentum in Deutschland ist stark durch Zuwanderung geprägt und nicht der Fokus dieses Buches.
In dem Kapitel über Saul Friedländer beschäftigt sich Schoeps vor allem damit, wie Friedländer den Holocaust schildert. Er legt dessen Motive frei und dechiffriert damit das "Faszinosum" des Nationalsozialismus. Das Portrait über Alphons Silbermann, den Soziologen und Publizisten aus Köln, der durch seine genauen Beobachtungen und seinen feinem Humor in seinen Untersuchungen des deutschen Alltags bekannt wurde, geht der Autor vor allem den Fragen nach dem "Milieu" antisemitischer Vorurteile nach. Aufklärung, Aufklärung und noch einmal Aufklärung sind seine Antworten. Die Formen des Antisemitismus´ ändern sich zwar, aber im Kern geht es immer um die Feindschaft gegen Juden. Es müssen weiterhin Wege gefunden werden, diesem Hass entgegengetreten.
Mit der Historikerin und Judaistin Marianne Awerbuch, der einzigen weiblichen Intellektuellen die in den "Begegnungen" vorkommt, vertieft Schoeps die Frage: "Wer für die Juden und deren Erfahrung der Shoah sprechen darf und wer nicht?" Beide kennen sich seit den 70er Jahren, als Marianne Awerbuch als Hilfskraft am von Jacob Taubes geleiteten Institut für Judaistik begann. Viele öffentliche Auseinandersetzungen, Tagungen und Debatten haben die beiden seither gemeinsam bestritten. "Marianne Awerbuch hielt es für einen perversen Gedanken, im Land der Täter ein Denk- oder Mahnmal zu errichten" so Schoeps. "Wer, so fragte sie, wer gedenkt hier eigentlich wessen – und weiter: wer gedenkt wessen zu welchem Zweck? Sie war der Ansicht, das Trauma der Shoah müsse von den Juden selbst aufgearbeitet werden. Das Trauern dürfe man den Juden nicht abnehmen, sondern es solle diesen allein überlassen bleiben." Mit dieser Position konnte sich Awerbuch im politischen Berlin nicht durchsetzen.
Nicht immer teilt Schoeps die Ansichten der von ihm vorgestellten Personen. So verhält es sich auch im Fall von Ignatz Bubis, den er zwar als "moralische Instanz" anerkannt hat, doch mit dem er sich nicht gut verstand. Schoeps hat ihm sein Bekenntnis zum Leben im Nach-Hitler-Deutschland nicht richtig abgenommen und seine Distanzierung und Vorbehalte gegenüber denjenigen, die sich dem deutschen Judentum zugehörig fühlten, nicht geteilt.
Zum Autor: Julius H. Schoeps, geboren am 1. Juni 1942 in Djursholm, Schweden, ist Historiker und Politikwissenschaftler, Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam und Vorstandsvorsitzender der Moses Mendelssohn Stiftung. 1969 betreute Julius H. Schoeps anlässlich der Herausgabe ihrer Tagebücher Anaïs Nin auf der Frankfurter Buchmesse. Ihn beeindruckte ein Zitat aus den Tagebüchern: "Eine echte Begegnung kann in einem einzigen Augenblick geschehen."
Schoeps war der erste Direktor und Mitgründer des Salomon Ludwig Steinheim-Institutes in Essen. Eine Auswahl seiner Publikationen: "Über Juden und Deutsche. Historisch-politische Betrachtungen" (1986), "Leiden an Deutschland. Vom antisemitischen Wahn und der Last der Erinnerung", (1990), "Deutsch-jüdische Symbiose oder die missglückte Emanzipation" (1996), "Preußen. Geschichte eines Mythos" (2000), "Mein Weg als deutscher Jude. Autobiographische Notizen" (2003), "Das Erbe der Mendelssohns. Biographie einer Familie" (2009), "Deutsch-jüdische Geschichte durch drei Jahrhunderte: Ausgewählte Schriften" (2010–2013), "Der König von Midian. Paul Friedmann und sein Traum von einem Judenstaat auf der arabischen Halbinsel" (2014), "Feindbild Judentum – Antisemitismus in Europa" (2014), "Eine Debatte ohne Ende - Raubkunst und Restitution im deutschsprachigen Raum".
Weitere Infos unter:
Interview mit Julius H. Schoeps vom 26.04.2008 – Was bedeutet Zionismus heute? auf n-tv
Homepage des Moses Mendelssohn Zentrums, Universität Potsdam
AVIVA-Tipp: Deutlich wird, wie wichtig Julius H. Schoeps die deutsch-jüdische Beziehungsgeschichte ist, die heute - seiner Meinung nach - nicht mehr existiert. Er lädt künftige Generationen zur Erinnerung an die 20 Intellektuellen ein, die in der Tradition des Erbes stehen, und möchte sie mit "Begegnungen" seinen Leser_innen nochmals vor Augen führen.
Julius H. Schoeps
Begegnungen
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Gebunden, 422 Seiten
22,95 Euro [D] / 23,60 Euro [A]
SuhrkampVerlag, erschienen 11.04.2016
ISBN: 978-3-633-54278-9
www.suhrkamp.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Julius H. Schoeps - Der König von Midian. Paul Friedmann und sein Traum von einem Judenstaat auf der arabischen Halbinsel
Idealist oder Phantast? Spekulationen, Faszinationen und Gerüchte um ein Projekt, das Leben retten sollte. Visionen von der Errichtung eines nationalen jüdischen Zentrums hat es in einzelnen Kreisen der Diaspora bereits seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert und damit lange vor Herzls "Judenstaat" gegeben. (2014)
Feindbild Judentum – Antisemitismus in Europa, herausgegeben von Lars Rensmann und Julius H. Schoeps
Dieser Sammelband mit Studien und Analysen aus vielen europäischen Ländern zeigt, dass aus der Geschichte nur wenig gelernt wurde: Antisemitismus ist auch 63 Jahre nach Kriegsende ein Thema. (2008)
"Eine Debatte ohne Ende - Raubkunst und Restitution im deutschsprachigen Raum", herausgegeben von Anna-Dorothea Ludewig und Julius H. Schoeps
Die immer wieder aufflammende und stets sehr emotional diskutierte Restitution von Beutekunst war im April 2007 das zentrale Thema einer Konferenz, deren Vorträge jetzt in Buchform erschienen. (2007)
Juden in Berlin - Hg. von Andreas Nachama, Julius H. Schoeps und Hermann Simon
Dieses Buch ist für alle da. Juden können sich der Berliner-jüdischen Geschichte vergewissern, und Nichtjuden können das Buch als Mahnung dafür nehmen dass die jüdische Geschichte Teil ihrer eigenen Geschichte ist. (2002)