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Beitrag vom 02.02.2017
Ingeborg Gleichauf - Poesie und Gewalt. Das Leben der Gudrun Ensslin
Yvonne de Andrés
Eine extreme Person, ein extremer Lebensweg: Gudrun Ensslin gehörte zur Führungsspitze der RAF. Ingeborg Gleichauf versucht in ihrer Annäherung zu erklären, wie aus der klugen ...
...süddeutschen Pfarrerstochter eine knallharte Terroristin wurde.
Wer war Gudrun Ensslin wirklich? Gibt es jenseits der bekannten Zuschreibungen Neues zu entdecken? Diesen Fragen ist Ingeborg Gleichauf gefolgt. Sie hat dafür viele Quellen durforstet und versucht, neue Zugänge zur Person zu finden. Diese Suche stellte sich jedoch als schwierig heraus, da Familienangehörige und Personen aus dem direkten Umfeld Ensslins entweder tot sind oder nicht bereit, Auskunft zu erteilen.
Ingeborg Gleichauf hat ihre Suche in Bartholomä, dem Geburtsort von Gudrun Ensslin, am Ostrand der Schwäbischen Alb begonnen. Hier wurde Ensslin am 15. August 1940 geboren. Aufgewachsen ist sie in Tuttlingen und Bad Cannstatt. Die Autorin macht den Versuch, den LeserInnen das Pfarrhaus der Ensslins als, jedenfalls für evangelische Verhältnisse, ziemlich offen vorzustellen. Der Vater, Helmut Ensslin, war Mitglied der "Bekennenden Kirche", moralischer Antifaschist und verhinderter NS-Widerstandskämpfer, so jedenfalls wird es berichtet. Er hatte sich in seinen Predigten kritisch zu Hitler äußert und hoffte nach dem Krieg, dass Gudrun Ensslin einmal ein guter Mensch werden würde. Ensslin wird in diesem Buch entsprechend als belesen, literarisch interessiert und sehr fröhlich präsentiert. Nach dem Abitur studierte sie in Tübingen Germanistik, Anglistik und Pädagogik. Später wollte sie Lehrerin werden. Im Literaturkolloquium von Walter Jens begegnete sie ihrem späteren Verlobten Bernward Vesper. Dieser, mit der "Blut-und-Boden"-Ideologie seines Vaters belastet, konnte sich jedoch von seinen Eltern nicht lösen. Bernward Vesper war Jungkritiker und Jungverleger, mit starkem Drang zu Liebe, Sex und Rock ´n´ Roll. Vesper war ein wandelnder Widerspruch. Er verspürte einen starken Drang, ein freier Mensch zu sein. Aber er konnte auch nicht damit aufhören, das "völkische" Schriftgut seines Vaters zu pflegen. Gudrun unterstützte ihn darin.
Ingeborg Gleichauf, die bereits einige andere Biographien veröffentlicht hat, versucht, da sie so viele Quellen aus dem unmittelbaren Umfeld Ensslins nicht fand, Gudrun Ensslin anhand ihrer Lektüren zu erklären. Die Antwort auf die drängende Frage, die LeserInnen beantworten haben wollen, wie die sensible, weltoffene Pfarrerstocher sich in die Kassenwärtin und die Cheflogistikerin der Baader-Meinhof-Gruppe verwandelte, lässt sich auf diesem Weg nur sehr bedingt begreifen.
AVIVA-Fazit: Ingeborg Gleichauf versucht mit gängigen Klischees über Gudrun Ensslin, wie etwa dem der provinziellen Pastorentochter, aufzuräumen. In der Biographie schimmert nur in Andeutungen die Enge der Bundesrepublik und die nicht verarbeitete NS-Vergangenheit hindurch. Doch bei der Nachzeichnung der Lebensstationen Gudrun Ensslins überspringt sie die familiäre Vorgeschichte im Nationalsozialismus, an der sich die Generation der 68er familiär und politisch besonders gerieben hat. Ingeborg Gleichauf, die antritt, den Menschen Gudrun Ensslin hinter den Zuschreibungen aufzufinden, die über sie im Umlauf sind, spekuliert. Das ist schade.
Die ambivalenten Haltungen Gudrun Ensslins und Bernward Vespers hierzu werden nur teilweise angesprochen. Der Spannungsbogen, der sich bei Ensslin von der Tätigkeit als Mit-Nachlassverwalterin der Vesperschen NS-Prosa bis zur Herausgabe von Black-Power-Schriften spannt und dann in den bewaffneten Kampf wechselt, in dem Ensslin Sprache und Körper zu Waffen macht, kommt dabei nicht wirklich zur Geltung. Die von Gleichauf beschrittene "behutsame Annäherung" bleibt leider bei bereits lange bekannten Einblicken stehen und fügt ihnen ein paar neue Spekulationen hinzu. Über die anderen Führungskader der RAF - Baader, Meinhof und Mahler - gibt es bereits präzise Biographien, über Meinhof sogar mehrere, über Ensslin noch gar keine. Der Versuch von Ingeborg Gleichauf ist leider gescheitert.
Zur Autorin: Ingeborg Gleichauf, geboren 1953, studierte Philosophie und Germanistik und promovierte über Ingeborg Bachmann. Unter ihren zahlreichen Veröffentlichungen finden sich biografische Publikationen im Erwachsenen- und Jugendbereich über Max Frisch, Hannah Arendt und Simone de Beauvoir. 2015 erschien von ihr "So viel Fantasie. Schriftstellerinnen in der dritten Lebensphase" im AvivA-Verlag. Auszeichnungen: 2008 Preis der "Jungen Kritiker Wiens".
Ingeborg Gleichauf
Poesie und Gewalt. Das Leben der Gudrun Ensslin
Klett-Cotta Verlag, 2. Druckauflage erschienen 2017
Gebunden mit Schutzumschlag, mit Abbildungen, 350 Seiten
22,00 Euro
ISBN: 978-3-608-94918-6
www.klett-cotta.de
Veranstaltungshinweis: Donnerstag, 09. Februar 2017 um 20.00 Uhr
Jörg Barberowski, Jens Bisky und Elke Schmitter sprechen in der Reihe "Was ist denn hier passiert?" über Ingeborg Gleichaufs neues Buch (Die Autorin ist nicht anwesend!)
Literaturhaus Berlin, Fasanenstr. 23, 10719 Berlin
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