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Beitrag vom 15.02.2017
Beate Niemann - Ich lasse das Vergessen nicht zu
AVIVA-Redaktion
Bruno Sattler hat sich durch halb Europa gemordet. Seit 1931 in der NSDAP, war der spätere Gestapo-Chef von Belgrad in die heimtückische Erschießung des Kommunisten John Scheer verwickelt, ließ deutsche EmigrantInnen...
...in Paris verhaften, in Smolensk Partisanen und Roma ermorden, in Belgrad – 1942, als seine Tochter geboren wurde – 8500 Juden vergasen und "Geiseln" erschießen, in Wien und Ungarn Todesmärsche organisieren.
Er ist schuldig am Tod von weit mehr als Zehntausend Menschen. Wegen "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" wurde er 1947 in der DDR zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt und starb 1972 in der Haft.
Mörder-Vater, Täter-Mutter
Beate Niemann, seine dritte, 1942 in Berlin geborene Tochter, glaubte über 50 Jahre an die Unschuld ihres Vaters, sie kämpfte für seine Freilassung und nach seinem Tod für seine Rehabilitierung. Gekannt hatte sie in eigentlich nur aus der Familiensaga und von wenigen kurzen Besuchen im Gefängnis. Er war ihr zu Unrecht verurteilter Held. Erst in den 1990er Jahre mit dem Zugang zu Stasi-Akten und internationalen Archiven hatte sie schmerzhaft erkennen müssen, dass ihr Vater alles andere als ein Opfer war. Er war ein Massenmörder. Ihre Suche nach Unschuld kehrte sich um in die Sache nach Schuld. Ihre fast obsessive Recherche, die ständig neue schockierende Details hervorgebracht hatte, verarbeitete Yoash Tatari in dem Dokumentarfilm "Der gute Vater – eine Tochter klagt an" (2003) und Niemann selbst in einem eigenen Buch: "Mein guter Vater. Eine Täterbiographie" (Hentrich & Hentrich, 2005).
Nun hat Beate Niemann ein neues Buch veröffentlicht: "Ich lasse das Vergessen nicht zu". Flankiert von Texten ihrer Tochter ("Ich bin eine `Viertel-Mörderin‘"), einer Cousine und Wegbegleitern, beschreibt sie das Echo, das ihr "Outing" hinterlassen hat, sei es in den vielen Briefen, die sie bekam, in Begegnungen mit Opfern, mit ZeitzeugInnen oder SchülerInnen. Denn Niemann geht offensiv mit ihrem "Erbe" um, sie sucht die Begegnung und den Austausch. Ein ständiger Kampf mit all den Gefühlen, die sie selbst und ihre jeweiligen Gegenüber mit den vielen Facetten des Falls Sattler haben. Sie verschweigt nicht die kritischen Stimmen, die ihr "Nabelschau", "Nestbeschmutzung" oder Wichtigtuerei vorwerfen, und schildert eindrücklich das, was ihr Mut macht. Unter anderem waren das die Treffen mit Schoa-Überlebenden und Nachkommen in Belgrad, wo ihr Vater so schrecklich gewütet hatte. Sie erzählt von ihren Bedenken, ihrer Angst vor den Reaktionen, aber auch über das positive, manchmal überwältigend herzliche Echo und die große Resonanz, die der Film und ihr Buch ausgelöst haben.
Zugleich schaut Niemann auf die Ereignisse, die sie geformt, die ihr Leben ausgemacht haben – Abbruch der Schule ein Jahr vor dem Abitur, Abendschule, Ausbildung als Kinderpflegerin, Auslandskorrespondentin und Krankengymnastin, ihre Arbeit bei Amnesty International, die Demonstrationen gegen den Schah 1967, das Attentat auf Rudi Dutschke, das soziale Engagement während ihrer Jahre in Indien, endlich die Rückkehr nach Deutschland und der Beginn ihrer Suche nach dem echten Bruno Sattler...
Zu der Bestandsaufnahme gehört jedoch nicht nur ihr Vater und das Schweigen oder Schönreden über ihn, sondern auch ihre Mutter. "Ich habe früh entschieden, nicht so werden zu wollen, wie meine Mutter", schreibt sie, "Mein abwesender Vater war meine Lichtgestalt... Spät in meinem Leben musste ich bitter lernen, dass mein Vater ein überzeugter Nazi-Mörder war, meine Mutter die NS-Täterin an seiner Seite."
Niemanns Mutter, 1904 in einer ArbeiterInnenfamilie geboren, hatte ihren späteren Ehemann Bruno Sattler kennengelernt, als sie beim Verteilen von KPD-Flugblättern verhaftet und von ihm verhört worden war. "Wie sie den politischen Wechsel der Weltanschauungen für sich vollzog, ist ein für mich nicht zu lösendes Rätsel", schreibt die Tochter. Sie belegt episodenhaft, wie ihre Mutter sie als Kind benutzt hat, wie sie ihre Tochter verletzt und gedemütigt, sie wider besseren Wissens immer wieder über den Vater belogen hat. Die wohl grausamste Wahrheit über ihre Mutter hat Beate Niemann erst nach deren Tod erfahren: Das Haus in Berlin-Tempelhof, in dem sie geboren wurde, hatten ihre Eltern der jüdischen Vorbesitzerin Frau Leon abgekauft – so die Familiensaga. Zu der Mär der Mutter hatte auch gehört, dass sie selbst die hochschwangere Frau Leon über die Schweizer Grenze in Sicherheit gebracht habe. Für Beate Niemann war das über Jahre der Beweis für die "Heldenhaftigkeit" ihrer Mutter. Doch dann findet sie eine Postkarte, datiert drei Tage nach ihrer Geburt, auf der diese Mutter, die "Retterin", ihrem Mann nach Belgrad schreibt: "...Die Leon kommt am 20.6. auf Transport nach dem Osten". Heute weiß Niemann, dass ihre Eltern Frau Leon erpresst haben, ihnen das Haus für einen Spottpreis zu verkaufen; als Gegenleistung wurde ihr versichert, dass sie für mindestens ein Jahr von der Deportation zurückgestellt wird. Zwei Wochen nach dem Abschluss des Kaufvertrages wurde Gertrud Leon von der Gestapo abgeholt, nach Theresienstadt geschickt und später in Auschwitz ermordet...
Die Geschichte ihrer Familie, die allgemeine Blindheit und das Wegsehen im Nachkriegsdeutschland verknüpft Beate Niemann zuletzt auch mit aktuellen Auswüchsen der Gesellschaft, mit Pegida, AfD und Co, die mit Desinformation, Ignoranz und Hass dem Anderen, dem "Fremden" gegenüber Stimmung machen, sei er "Flüchtling", dunkelhäutig oder Jude. Niemanns Arbeit ist ein Baustein gegen Geschichtsklitterung und für ein "kosmopolitisches" Engagement, so wie es ihr von ihren WegbegleiterInnen bescheinigt wird, und wie es dieses Büchlein dokumentiert, das auf die Initiative der Verlegerin des jüdischen Lichtig Verlags, Nea Weissberg, zustande kam. Die wollte wissen, wer diese Beate Niemann ist, diese Deutsche, die so konsequent und schonungslos den NS-Verstrickungen der eigenen Familie gefolgt war und den Mut hatte, sich den damit einhergehenden Loyalitätskonflikte zu stellen und den Gegenwind, der ihr entgegenschlug, auszuhalten.
AVIVA-Tipp: "Chapeau", schreibt Nea Weissberg. Das ist wohl das richtige Wort.
Beate Niemann
Ich lasse das Vergessen nicht zu
Lichtig-Verlag, Berlin, erschienen 2017
ISBN: 978-3-929905-38-0
112 Seiten
14,90 Euro
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