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Beitrag vom 15.02.2017
Christa Wolf - Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten – Briefe 1952-2011
Bärbel Gerdes
Zum fünfjährigen Todestag der Schriftstellerin am 1. Dezember 2011 hat die Herausgeberin Sabine Wolf, Leiterin des Literaturarchivs in der Berliner Akademie der Künste, eine Autobiographie in Briefen gezaubert.
"Ich hab oft gesagt, daß es über unsere Zeit leider später mal keine Briefliteratur geben wird, weil kein Mensch mehr Briefe schreibt, aus mehreren Gründen. Auch ich nicht, oder nur selten. Mitteilungen, Anfragen, Proteste – das ja. Aber einen richtigen Brief? Kann man sich denn auf irgendeinen Briefpartner verlassen? Und jetzt hast Du mir einen geschrieben, und das hat mir sehr wohlgetan."
So schreibt Christa Wolf im Februar 1969 an die bereits an Krebs erkrankte Freundin und Kollegin Brigitte Reimann – und hinterließ dann selbst "Briefliteratur", die uns jetzt in einer ganz besonderen Sammlung vorliegt.
Aus über 15.000 Briefen, die sich im Literaturarchiv in der Berliner Akademie der Künste befinden, hat die nicht mit ihr verwandte Herausgeberin Sabine Wolf, Leiterin eben jenes Archivs, fast 500 Briefe ausgewählt, die Wolf in den Jahren 1952 bis zu ihrem Tod 2011 geschrieben hat. Es sind Briefe an Freundinnen und Freunde, an KollegInnen im In- und Ausland, es sind Protestnoten, Briefe an Verleger und an zahlreiche Leserinnen und Leser.
Mit ihnen haben wir die Möglichkeit, Christa Wolfs Entwicklung mitzuverfolgen, von der anfangs sehr selbstbewussten, ja selbstgewissen Literaturkritikerin zur kritischen, sich stets hinterfragenden und der "Wahrhaftigkeit" verpflichteten Autorin.
1952 bietet sich die Dreiundzwanzigjährige dem Neuen Deutschland, dem Presseorgan der SED als Kritikerin an – und verreißt dreist selbst Romane gestandener AutorInnen. Zwar räumt sie ein "Ich bin noch kein Literaturkritiker, sondern studiere noch und will erst einer werden.", wenn wir dann aber die Briefe an den Autoren Emil Rudolph Greulich lesen, erschreckt der rüde Ton doch sehr. Und um etwaigen Einwänden zuvor zu kommen, schreibt sie ihm gleich "Du magst mir vorwerfen, ich urteile zu streng. Ich finde, dass ein großer Teil unserer Literaturkritik zu nachsichtig ist."
Deutlich ist Wolf ihrer Zeit und ihrer Gesellschaft verhaftet, überzeugt davon, auf der richtigen Seite zu stehen.
So schreibt sie 1963 Sarah Kirsch, die in einem Brief von Angriffen in der Parteipresse gegen junge SchriftstellerInnen und auch gegen sie selbst berichtet: "Leider ist aus Gründen, die mir selbst noch nicht völlig klar sind, eine Situation eingetreten, in der die Mißdeutungen von Gedichten tatsächlich zu einem politischen Faktor werden und sich auf einmal, ohne daß der Dichter vorher daran gedacht hat, gegen das richten, wofür er schreibt. Wir können das bedauern, aber wir müssen damit rechnen und dafür sorgen, daß wir völlig eindeutig sind, daß es gar keinen Zweifel geben kann, wofür eine Sache steht, daß wir auch in der Thematik genau überlegen, was man veröffentlichen soll."
Deutlich zeigt dieser Band jedoch auch, wie schnell Christa Wolf sich von manchem Tun in ihrem Staat distanzierte, wie sie ihn verändern und verbessern wollte, wie sie sich einsetzte für SchriftstellerkollegInnen, SchülerInnen, die wegen einer Aktion bestraft werden sollten, wie sie bei Erich Honecker und anderen ZK-Mitgliedern intervenierte, um für Bürgerrechtlerinnen wie Bärbel Bohley oder Volker Braun zu kämpfen.
Dieses Distanzieren aber führte auch zu einer quälenden Ambivalenz, die sie bis zum Schluß in sich trug. Häufige psychosomatische Erkrankungen, Kuraufenthalte, Depressionen und Selbstmordgedanken, die sie ihren engsten Freundinnen und Freunden mitteilte, sind die Folge.
Und die Leserin wiederum mag zu ambivalenten Gefühlen führen, wenn Wolf von ihrer Parisreise oder einem anderen Auslandsaufenthalt erzählt.
In den Briefen lernen wir jedoch auch die Schriftstellerin näher kennen, die jahrelang ein Buch im Kopf herumträgt, das später dann "Kindheitsmuster" wird, die begeisterte LeserInnen-Zuschriften erhält und mit einigen einen jahrzehntelangen Briefwechsel unterhält.
Die Briefe zeigen, dass sie mitnichten die Staatsdichterin der DDR war, zu der sie auch noch nach der Wende stilisiert wurde. Dass sie aber in ihrem Land bleiben wollte und wohl noch bis zur friedlichen Revolution 1989 an seine Reformierbarkeit glaubte, wird sehr deutlich. Umso größer dann der Schock, den sie auch in ihrem Bericht Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud (2010) beschreibt, als sie erkennt, dass ihre Landsleute nicht einen anderen, besseren Sozialismus, sondern den westlichen Kapitalismus wollen.
AVIVA-Tipp: Sabine Wolf hat eine sehr spannend zu lesende Lektüre zusammengestellt, eine Zeitreise durch die DDR und ihre Entwicklung und eine Briefautobiographie, die uns Christa Wolf von einer sehr einnehmenden Seite zeigt.
Zur Autorin: Christa Wolf wurde 1929 in Landsberg/Warthe (Gorzów Wielkopolski) geboren und lebte in Berlin und Woserin, Mecklenburg-Vorpommern. Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen, darunter dem Georg-Büchner-Preis, dem Thomas Mann Preis und dem Uwe-Johnson-Preis, ausgezeichnet. Wichtige Bücher sind "Nachdenken über Christa T.", "Kassandra", "Ein Tag im Jahr", "Was bleibt" u.a. Sie starb 2011 in Berlin.
Zur Herausgeberin: Sabine Wolf, 1961 in Pößneck / Thüringen studierte in Berlin und Leipzig Germanistik und Archivwissenschaften. Seit 2006 ist sie Leiterin des Literaturarchivs in der Berliner Akademie der Künste. Dort liegt auch der literarische Nachlass Christa Wolfs. Sabine Wolf realisierte Ausstellungsprojekte und legte zahlreiche Veröffentlichungen vor. Zuletzt editierte sie den Band Kunst und Leben. Georg Kaiser (1878-1945) (2011).
Mehr Infos unter: www.adk.de
Christa Wolf
Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten – Briefe 1952-2011
Herausgegeben von Sabine Wolf
Suhrkamp Verlag, erschienen am 14.11.2016
Gebunden, 1040 S., auch als E-Book erhältlich
ISBN 978-3-518-42573-2
38.00 Euro
www.suhrkamp.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Brigitte Reimann und Christa Wolf - Sei gegrüßt und lebe. 1963 - 1973. Eine Freundschaft in Briefen und Tagebüchern
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Christa Wolf starb am 1. Dezember 2011 im Alter von 82 Jahren in Berlin
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Christa Wolf – Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud
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Ines Geipel - Zensiert, verschwiegen, vergessen. Autorinnen in Ostdeutschland 1945 – 1989
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Anna Kaminsky - Frauen in der DDR
Die Auffassung, dass die DDR in punkto Gleichberechtigung von Frauen ein wahres Fortschrittswunderland gewesen sei, ist nach wie vor weit verbreitet. Doch wie gestaltete sich die Lebensrealität der Frauen tatsächlich? Die Geschäftsführerin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die Übersetzerin und Autorin Anna Kaminsky, versucht in ihrem Buch "Frauen in der DDR" einen umfassenden Einblick in das wahre Leben der weiblichen DDR-Bevölkerung zu geben – und dem gängigen Bild der DDR als zumindest im Bezug auf Gleichberechtigung der Geschlechter fortschrittlichem Land zu widersprechen. (2017)