Andrea von Treuenfeld - Erben des Holocaust. Leben zwischen Schweigen und Erinnerung - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 21.03.2017


Andrea von Treuenfeld - Erben des Holocaust. Leben zwischen Schweigen und Erinnerung
Nea Weissberg

Seit den 1980er Jahren sind auf Deutsch etliche Bücher zur "Second Generation" von den Nachkommen der Holocaust Überlebenden erschienen, in den USA bereits schon Ende der 1970er Jahre, vor allem von Helen Epstein ("Children of the Holocaust: Conversations with Sons and Daughters of Survivors"). Jetzt,...




... im Jahr 2017 gibt die deutsche Journalistin Andrea von Treuenfeld den Sammelband "Erben des Holocaust – Leben zwischen Schweigen und Erinnerung" heraus.

Eine gläserne Wand zwischen Juden und Nichtjuden

Deren Interviewpartnerinnen und Interviewpartner, geboren zwischen Frühjahr 1944 und 1972 – in Deutschland (BRD, West-Berlin), Niederschlesien, Oberschlesien, Israel, Österreich, England und den USA – erzählen unverschleiert, wie sie mit ihrem Familienerbe umgehen, um ihre eigene und die historische Wahrheit verstehen zu können. Sie beschreiben die nachträgliche Wirksamkeit der Shoa bis heute, auf der ihr gesellschaftspolitisches Engagement basiert.

Von Treuenfeld schreibt in ihrem Vorwort über die von ihr befragten Menschen: "Der Holocaust bleibt, obwohl sie ihn nicht selbst erlebt haben, ein wesentliches Element dieser Menschen..."

Doch zwei der 18 Portraitierten, Prof em. Dr. Jakob Hessing und der Schriftsteller Robert Schindel sind Child Survivors. Sie waren persönlich vom Tage ihrer Geburt an durch die NS-Ideologie und das NS-Vernichtungsprogramm existentiell bedroht. Der kleine Jakob überlebte mit seinen Eltern Monate lang in einem Erdloch versteckt in Polen, der kleine Robert wurde von seinen Eltern getrennt, kam zunächst in das Jüdische Spital in der Wiener Tempelgasse und später zu kommunistischen Pflegeeltern. Seine als Kommunistin inhaftierte und deportierte jüdische Mutter hat er erst Mitte 1945 wiedergesehen, sein jüdischer Vater wurde als Kommunist am 28. März 1945 hingerichtet. Beide Kleinkinder lebten in unaufhörlicher Lebensgefahr, gefangen, misshandelt, deportiert, erschossen und vergast zu werden.

Berührend und mit klaren Worten berichtet Hessing, der heute in Israel lebt und als Professor an der Hebräischen Universität das Rosenzweig-Zentrum mit aufbaute, um Germanistik zu lehren: "Die Großmutter war krank und ich behindert, die ganze rechte Körperseite ist gelähmt (das lag an den ungünstigen medizinischen und sanitären Bedingungen, unter denen ich – in einem Erdloch bei dem polnischen Bauern – zur Welt gekommen bin)."

Wie tagtäglich bedrohlich die Lebenssituation war, benennt Robert Schindel: "Alle Kinder, die dort waren, sind umgebracht worden oder verhungert. Nur acht sind übriggeblieben, darunter war ich..." Schindel beschreibt nachvollziehbar, wie insbesondere Child Survivors als Schutz eine lange Zeit eine emotionale Abkapselung benötigten: "Wahrscheinlich, weil es da unbewusst gewisse Wappnungen, Panzerungen gibt." Als Schriftsteller beschäftigt er sich in seinem Roman "Gebürtig" mit der "gläsernen Wand zwischen Juden und Nichtjuden". Die Post-Shoa-Generation ist sein publizistisches Thema geworden.

Die meisten der im Buch portraitierten Menschen gehören großenteils der "Second Generation" an. Während des II. Weltkrieges sind in Europa 1,5 Millionen jüdische Kinder ums Leben gekommen, mehr als eine Million dieser Kinder wurde vorsätzlich und systematisch vernichtet. Durch den gewaltsam ausgelösten Riss in der natürlichen Generationenfolge erfolgte eine neue Generationenzählung. In jüdischen Familien werden die nachgeborenen Kinder als "Second Generation" bezeichnet. Etliche von ihnen wuchsen eine Zeit lang in einem familiären Umfeld des Schweigens aus Selbstschutz und Scham auf, andere wiederum hörten von dem in der Shoa Erlittenen und erlebten die Folgen der Verfolgung an ihren Eltern.

Einfühlsam ist in Dr. Rachel Salamanders Beitrag nachzulesen, wie eindrücklich die ersten Kindheitsjahre im DP-Lager Föhrenwald für sie waren: "Mit der nichtjüdischen Welt kamen wir also kaum in Berührung. Wir wuchsen mit einem klaren Bewusstsein auf: um uns herum ist das Feindesland der Täter, die Amerikaner unsere Retter...
Die KZ-Überlebenden redeten ausgiebig miteinander. Gingen mein Bruder und ich am Abend ins Bett, saßen die Erwachsenen im selben Zimmer zusammen, und wir Kinder schliefen mit ihren todtraurigen Geschichten und ihrem Weinen über die Ermordeten ein."


Herzerwärmend beschreibt Salamander, worauf sie gefühlsmäßig zurückgreifen kann, obwohl sie früh den Verlust ihrer Mutter verspüren und verkraften musste: "Für jene mit Auschwitz-Nummern am Arm waren Kinder wie ein Wunder. Eine fleischgewordene Hoffnung. Trotz der widrigen Umstände im Lager – ich erinnere mich an Kälte, Feuchtigkeit und Hunger – prägte uns diese Phase durch klare Emotionen, eine unverbrüchliche Liebe der Erwachsenen uns gegenüber und ihre absolute Zuwendung."
Salamander fördert mit der 1982 gegründeten jüdischen Literaturhandlung und anhand wiederkehrender literarischer Veranstaltungen ein Verständnis zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland.

Einige wenige der im Buch Mitwirkenden sind sogenannte "Vaterjuden" oder stammen aus Familien, die zum Christentum konvertierten oder haben z. T. in ihrer Verwandtschaft Großeltern mit NS-Belastung.

Hier erfahren wir bei Nina Ruge etwas über ihren innerseelischen Spagat, als Tochter väterlicherseits jüdischer Abstammung zu sein, was lange Zeit in ihrem christlichen Umfeld tabuisiert worden ist. Ruge fand gegen das "Gespenst" namens "Angst" und "Verlorenheit" für sich einen Halt in der esoterischen Spiritualität: "Heute habe ich ein inneres Bild gefunden, in dem meine Eltern bei mir sind. Ich sehe sie als zwei große Flügel, die ich federleicht auf dem Rücken trage."

Im Sammelband "Erben des Holocaust" begegnen wir einem altbekannten Mechanismus der Mehrheitsgesellschaft, wie beschwerlich es ist, Familiengeheimnisse samt systemloyaler NS-Belastung und Verleugnung aufzuspüren, Verschweigen zu hinterfragen, um mögliche Rückwirkungen von NS-Verstrickungen zu enttarnen. In Folge neigen Nachkommen dazu, sich eher mit ihrer jüdischen Familienherkunft zu identifizieren. Martin Moszkowicz schreibt über seine Mutter: "Sie kommt aus einer österreichischen Familie mit einem Nazi als Oberhaupt, und das Verhältnis zu ihrem Vater war nicht unbedingt gut... Das war ein Intellektueller, aber halt ein strammer Nazi. War sogar Gauleiter der Steiermark gewesen. Nicht unbedingt ein glühender Antisemit, aber eben ein Nazi." Moszkowicz fühlte sich erst weit weg von Deutschland in seinem jüdischen Wurzel-Sein angenommen, weil in Amerika sogenannte "Vaterjuden" in liberalen Synagogen gesellschaftlich akzeptiert und integriert werden.

Wie setzt sich die Wahl der Befragten zusammen, für die sich Frau von Treuenfeld entschieden hat? Es sind zum Teil mehr oder weniger bekannte Persönlichkeiten, die sich für einen Dialog zwischen der jüdischen und nichtjüdisch-deutschen / österreichischen Nachkriegsgeneration engagieren. Ungesagt bleibt, weshalb Stimmen der in der Sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR geborenen "Second Generation" vollständig fehlen.

Die Buchbeiträge unterscheiden sich im Niveau, aus einigen Transkriptionen ist noch der weitgehend spontane Erzählfluss herauszuhören, anderen Texten ist anzumerken, dass sie vorab gut redigiert und danach autorisiert worden sind.
Einige der Interviewten, wie Sarah Singer, sind mit sich emotional schonungslos offen, andere sind abgegrenzt und auf ihren Schutz bedacht. Verstrickungen von Parentifizierung waren manches Mal in Holocaustfamilien als nachträgliche Wirksamkeit spürbar. So fühlte sich Singer schon im Kindesalter verpflichtet, bezüglich ihrer von Verlust-und Lebensangst überwältigten Mutter eine Elternfunktion wahrzunehmen.

Eine Rückkoppelung des jeweiligen medialen Kommunikationsprozesses zwischen der Initiatorin des Buches Andrea von Treuenfeld und den von ihr genommenen Protagonisten wird der lesenden Rezipientin nicht ermöglicht, da Fragen oder Nachfragen der Herausgeberin fehlen.
Was die Journalistin motiviert hat, ein solches Buch zu publizieren, welche eigenen biographischen Hintergründe sie veranlasst haben, sich der jüdischen Seite zuzuwenden? Das bleibt unbeantwortet.
Ihr Ziel ist es, aufzuzeigen, dass die Beurteilung des aktuellen politischen Ist-Zustandes ihrer Protagonistinnen und Protagonisten durch die erlittenen Erfahrungen und Erinnerungen ihrer Eltern, die den Mord am jüdischen Volk überlebt haben, bis heute davon geprägt worden ist. So sagt der Showmaster und Schauspieler Ilja Richter repräsentativ für die "Second Generation": "Die Geschehnisse unserer Gegenwart sehe ich immer im Kontext zur Vergangenheit."(S.163)

AVIVA-Tipp: "Erben des Holocaust - Leben zwischen Schweigen und Erinnerung" erzählt anhand von 18 Portraits, wie die in der Shoa erlittenen Traumata - Ausgrenzung, Herabsetzung, Verfolgung, Flucht, Gewalt, Deportation, Verlust von Familienmitgliedern durch Massen-und Raubmord sowie von Heimat, Sprache und Kultur – in der Post-Shoa-Zeit transgenerationell nachwirken.

Zur Autorin: Andrea von Treuenfeld, hat in Münster Publizistik und Germanistik studiert und nach einem Volontariat bei einer überregionalen Tageszeitung lange als Kolumnistin, Korrespondentin und Leitende Redakteurin für Printmedien, darunter Welt am Sonntag und Wirtschaftswoche, gearbeitet. Heute lebt sie in Berlin und schreibt als freie Journalistin Porträts und Biografien. Im Gütersloher Verlagshaus erschienen bereits ihre beiden Bücher "In Deutschland eine Jüdin, eine Jeckete in Israel" und "Zurück in das Land, das uns töten wollte. Jüdische Remigrantinnen erzählen ihr Leben".

Lesungstermine unter: www.randomhouse.de


Andrea von Treuenfeld
Erben des Holocaust – Leben zwischen Schweigen und Erinnerung

Gütersloher Verlagshaus, erschienen 2017
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 221 Seiten
Euro 19,99
ISBN: 978-3-579-08670-5
www.randomhouse.de

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Nationalsozialistische Täterschaften. Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie. Herausgegeben von Oliver von Wrochem unter Mitarbeit von Christine Eckel
Der informative Sammelband, ein fünf Jahre währendes Langzeitprojekt, beinhaltet 34 Artikel, die sich mit nationalsozialistischer Täterschaft und deren nachträglichen psychosozialen Wirksamkeiten auf die Kriegskindergeneration, die Nachkriegsgeneration und deren Kinder (Enkelgeneration) beschäftigt. Der Herausgeber vertritt die Meinung, dass die erste historisch wissenschaftliche Auseinandersetzung mit NS-Täterschaft in Deutschland erst Mitte 1990 begonnen hat. (2016)

Nea Weissberg, Jürgen Müller-Hohagen. Beidseits von Auschwitz Identitäten in Deutschland nach 1945. Dreißig Beiträge und Schlussgedanken von Halina Birenbaum
Viel zu spät wird die Frage nach den seelischen Auswirkungen des NS nicht mehr allein den Kindern der Opfer, sondern auch den Kindern der Tatbeteiligten gestellt. Denn während die Frage nach der Identität für die Nachkommen der Verfolgten keineswegs eine neue ist im öffentlichen Diskurs oder in literarischen und akademischen Publikationen, ist sie das weitestgehend für die Nachkommen der Verfolgenden. Ein Zufall, dass diese Initiative von jüdischer Seite kommt, ist es nicht. (2016)

Andrea von Treuenfeld - In Deutschland eine Jüdin eine Jeckete in Israel
Als sie aus dem Deutschland der 1930er-Jahre fliehen mussten, waren sie kleine Mädchen oder junge Frauen. Ihnen wurde die Heimat genommen, die Familie und ihre Würde. Sie kamen – oft auf den abenteuerlichsten Wegen – nach Palästina und wurden hier als "Jeckes" verspottet und abgelehnt. (2013)

Bewegtes Schweigen - Lies Auerbach-Polak und Betty Bausch-Polak
Die Schwestern Betty und Lies wachsen behütet in Amsterdam auf, bis 1940 die Nazis Holland besetzen und jede für sich ums Überleben kämpfen muss, die eine im Untergrund, die andere in Lagern. (2009)


Literatur

Beitrag vom 21.03.2017

Nea Weissberg