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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 23.03.2017


Katharina Finke - Loslassen. Wie ich die Welt entdeckte und verzichten lernte
Silvy Pommerenke

Katharina Finke: "eine reisende Reporterin? Eine moderne Nomadin? Eine heimatlose Konsumkritikerin?" Nein, sie ist mehr als das: Nämlich eine gute Erzählerin, die es schafft, den eigenen Horizont zu erweitern (ohne zu reisen) und dabei gegen den unmäßigen Konsum unserer Gesellschaft zu appellieren!




Wieviel Dinge braucht der Mensch?

Der Prozess des radikalen Ausmistens geht nicht spurlos an Katharina Finke vorbei. Sie lässt die Leserin teilhaben an ihren Ängsten, ob sie die Leere, die nach dem Verzicht auf materielle - und auch ideelle - Dinge vermutlich entstehen würde, füllen kann. Mit sich füllen muss. Es kommt zu diesem grundsätzlichen Einschnitt in ihrem Leben, weil sie nach der Trennung von ihrem Freund die gemeinsame Wohnung auflösen. Und während er aus melancholischen Gründen Dinge aufbewahrt, nutzt Katharina den gleichen Grund, um sich von Dingen zu verabschieden und um sich vor dem Gefühl der Melancholie in Zukunft zu schützen. Ob es ihr auch wirklich gelingt? Denn so leicht, wie sie es ihrem Ex-Freund glauben machen will, fällt ihr der Schritt nicht, ihr altes Leben so sehr auf den Kopf zu stellen bzw. loszulassen. Genau diese Zweifel machen es für die Leserin aber sehr nachvollziehbar, dass so ein Prozess möglich (eventuell sogar nötig), zugleich aber auch nicht einfach ist. Oder, um eine Freundin der Autorin zu zitieren: "Diese Widersprüche machen dich menschlich."

Die Leserin erfährt etwas über die Minimalismus-Szene (deren bekanntestes Gesicht wohl Heidemarie Schwermer war), und aus welch unterschiedlichen Gründen Menschen diesen Lebensstil bevorzugen: aus politischem Bewusstsein, als Konsumkritik, wegen Erkrankung oder Verlust eines nahen Menschen und noch aus vielerlei anderen Gründen mehr. Für Finke hatte es anfangs damit zu tun, dass sie sehr viel auf Reisen war und eine eigene Wohnung in Hamburg eine Belastung darstellte. Sie durchlebt aber einen Entwicklungsprozess, der letztendlich zu einem neuen, bewussteren Lebenskonzept führt.

Letztendlich hat der Entschluss zum Loslassen bei Katharina Finke aber schon vor vielen Jahren begonnen. So nimmt sie die Leserin autobiografisch mit auf ihrer räumlichen und mentalen Entwicklungs-Reise über Stationen wie Bristol, Barcelona, Sevilla, Jerusalem, New York, Neu-Delhi - um nur einige Stationen der Kosmopolitin zu nennen. Sie schildert die zahlreichen schönen Erlebnisse, die aufregenden Eindrücke jeden neuen Ortes, das Gefühl der unbegrenzten Freiheit. Sie schildert aber auch das Gefühl von Leere, Entwurzelung und Einsamkeit und die Schwierigkeit, die das unstete Leben in Bezug auf emotionale feste Beziehungen mit sich bringt. Und, sehr selbstkritisch, dass das ziellose Durch-die-Welt-Jetten eine Flucht vor sich selbst war.

Zudem schildert sie die Selbstzweifel, die sie überkommen, nachdem zwei ihr nahestehende Menschen verstarben, während sie auf Reisen war. Sie konnte sich somit nicht von ihnen verabschieden und Finke sieht immer mehr die negativen Seiten, die mit dem Freiheitsgefühl des stetigen Reisens verbunden sind: emotionale Bindungen und eine feste Bande sind dadurch kaum lebbar. Sie bringt es auf den Punkt: Soziale Einzelgängerin - "Ich war im freien Fall, weil da nichts war, was mich halten konnte." Schließlich führt das zu einer depressiven Störung, die sie in Berlin psychotherapeutisch behandelt, und auch dadurch, dass sie sich ein festes WG-Zimmer anmietet und nun endlich auch einen Rückzugsort und Privatsphäre findet. Nach kurzer Zeit verlässt sie aber wieder Berlin und zieht nach New York - ein Jobangebot wartet dort auf sie. Und nach Big Apple folgen noch etliche andere Auslandsaufenthalte. Katharina Finke stößt dabei immer wieder an ihre Grenzen. Vor allem, wenn es darum geht, sich emotional auf Menschen einzulassen und eine feste Bindung einzugehen. Sie wirkt atem- und ruhelos dabei. Eine Suchende, die nichts findet - außer unzählige Auslandsimpressionen. Und, so schön der Gedanke auch ist, ständig unterwegs zu sein und weniger Besitz zu haben, so bleibt nach der Lektüre die Frage, ob bei Finke und all den Menschen, die diesen Lebenswandel pflegen, nicht einfach eine Suchtverlagerung stattfindet. Statt des materiellen Besitzes werden Länder, Menschen und Sehenswürdigkeiten fast schon zwanghaft konsumiert. Das würde dann auch - trotz all der Konsumkritik und moralischen Appelle, die Finke in ihrem Buch untergebracht hat -, sehr gut zum heutigen Zeitgeist der Überflussgesellschaft passen: schneller, höher, weiter - immer mehr - konsumieren um des Konsums Willen... Sie stellt sich allerdings selbst die Frage, was sie eigentlich ist: "eine reisende Reporterin? Eine moderne Nomadin? Eine heimatlose Konsumkritikerin?" Und kann sie doch nicht beantworten... Bei allem gibt sie aber auch allerlei Historisches preis, schildert ihre Erlebnisse mit anderen Kulturen und ihre unbändige Neugier führt sie an so manch ungewöhnlichen Ort. Als Reiseführer für neugierige Menschen allemal lesenswert!

AVIVA-Tipp: Katharina Finkes "Loslassen" ist mehr als nur ein Buch über ihre persönliche Entwicklung. Es ist zugleich Reise- und Architekturführer, gesellschaftskritischer und moralischer Appell, Lebensratgeber. Neben der unglaublich kurzweiligen Lektüre und den schillernden Beschreibungen ferner Länder bleibt vor allem eins bei der Leserin zurück: die Idee des Loslassens auf das eigene Leben anzuwenden! Ein Schriftzug in Lissabons Straßen bringt das Lebensmotto von Katharina Finke wohl am besten zum Ausdruck: "The best things in life aren´t things".

Zur Autorin: Katharina Finke (geboren 1985) ist Autorin und freie Korrespondentin. Sie arbeitet unter anderem für den Freitag, die ZEIT, SPIEGEL, ARD und ZDF. Seit fünf Jahren berichtet Katharina Finke über Nachhaltigkeits- und Menschenrechtsthemen von verschiedenen Orten auf der Welt, an denen sie dann auch immer lebt. 2015 ist ihr Buch "Mit dem Herzen einer Tigerin" erschienen, in dem es um Gewalt gegen Frauen in Indien geht. Sie berichtet von verschiedenen Orten auf der Welt. Bislang aus Australien, Bangladesch, China, Deutschland, Indien, Israel, Kanada, Niederlande, Neuseeland, Portugal und den USA. Ihre Schwerpunkte dabei sind Gesellschaft, Kultur, Reise und Umwelt, mit Fokus auf sozialen Projekten und Menschenrechtsthemen. Finke arbeitet für Print- und Onlinemedien, sowie für deutschsprachiges Fernsehen. In "LOSLASSEN – Wie ich die Welt entdeckte und verzichten lernte" erzählt Finke von ihrem minimalistischen Lebensstil und ihren Reisen rund um den Globus. (Quellen: Verlagsinfo & Freischreiber)

Katharina Finke
Loslassen – Wie ich die Welt entdeckte und verzichten lernte

Piper / Malik Verlag, erschienen März 2017
Klappenbroschur, 224 Seiten
ISBN: 978-3-89029-481-0
Euro 15,00
www.piper.de

Katharina Finke im Netz www.katharina.finke.com

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Literatur

Beitrag vom 23.03.2017

Silvy Pommerenke