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Beitrag vom 05.04.2017
Susanne Schädlich - Briefe ohne Unterschrift. Wie eine BBC-Sendung die DDR herausforderte
Lisa Baurmann
Noch 27 Jahre nach dem Ende der DDR gibt es Kapitel ihrer Geschichte, die unerzählt geblieben sind. Eines dieser Kapitel handelt von einer britischen Radiosendung und ihren ostdeutschen Hörer_innen, die gemeinsam versuchten...
...ein Stück demokratische Öffentlichkeit zu schaffen. Das neue Buch der Bestseller-Autorin ("Immer wieder Dezember – Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich", "Westwärts, so weit es nur geht") erzählt nun erstmals davon.
London, an einem Freitagabend im Jahr 1968: Ein Mann namens Austin Harrison verliest im britischen Radio Briefe, die ihm aus der hunderte Kilometer entfernten DDR geschickt wurden. Harrison ist Mitarbeiter des German Service der BBC und leitet und moderiert von 1949 bis 1975 die wöchentliche Sendung "Briefe ohne Unterschrift", die DDR-Bürger_innen ein Ventil für freie Meinungsäußerung bietet. Am Ende jeder Sendung fordert er die Hörer_innen auf: "Schreiben Sie uns, wo immer Sie sind, was Sie auf dem Herzen haben." Die Adressen, an die die Briefe geschickt werden, sind wechselnde stille Briefkästen in Westberlin.
Im selben Jahr in Greifswald schreibt ein 16-jähriger Schüler namens Karl-Heinz Borchardt seinen ersten Brief an Harrison. Er schreibt über den Prager Frühling, das Eingreifen der Warschauer-Pakt-Staaten, und die politische Stimmung in seiner Klasse. Doch das MfS ist den Briefen an Harrisons Sendung längst auf der Spur. Karl-Heinz´ Brief wird abgefangen, später noch ein weiterer. Sie werden zu Beweismaterial in einem Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit, der den inzwischen 18-jährigen zu zwei Jahren Haft verurteilt und für ihn beinahe eine Abschiebung in die BRD bedeutet hätte.
Susanne Schädlich hat die unzähligen Briefe aus der damaligen DDR in England aufgespürt und zeichnet einfühlsam und detailreich persönliche Geschichten der Beteiligten auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs nach. Auf der einen Seite stehen die drei britischen BBC-Journalisten, die in Westberlin und bei Besuchen hinter der Mauer beschattet und bespitzelt werden. Auf der anderen Seite die Absender_innen der Briefe in Ostdeutschland, die immer öfter ausfindig gemacht und den Repressionsmaßnahmen durch die Sicherheitsorgane ausgesetzt werden.
"Manchmal kann ich Wahrheit und Lüge nicht mehr unterscheiden."
Die Briefe, die die Autorin oft in Gänze zu Wort kommen lässt, bilden das Herzstück des Buches. Sie lassen tief blicken in den Alltag am Arbeitsplatz, in Schule und Haushalt der Schreibenden, aber auch in deren Umgang mit Propaganda und Indoktrinierung. Eine erst 16-Jährige schreibt mit für ihr Alter bemerkenswertem Reflexionsvermögen: "Zur Erweiterten Oberschule bin ich ja doch nur gekommen, weil ich in der Schule was verstanden habe, vor allem aber weil ich es verstanden habe, in gewissen Situationen gewissen Leuten nach dem Mund zu reden bzw. zu schweigen. Ich finde das selbst von mir charakterlos. Aber was soll ich machen? Wir werden ja zur Lüge erzogen. Manchmal kann ich Wahrheit und Lüge nicht mehr unterscheiden."
Den persönlichen Geschichten verleiht die Autorin noch zusätzlich Facetten, indem sie in ihre Erzählung neben den Zitaten aus Briefen persönliche Interviews und auch immer wieder Stasiakten einflicht. Dabei wird besonders deutlich, wie unterschiedlich das Geschehen aus der Sicht von Einzelpersonen auf der einen und aus der Sicht der Sicherheitsorgane auf der anderen Seite erscheint. Schädlich gelingt es, einen Einblick in das Ideologiegerüst zu geben, das die völlig unverhältnismäßige staatliche Reaktion auf die Radiosendung rechtfertigen sollte. Dessen absurdeste sprachliche Auswüchse entbehren bisweilen nicht einer gewissen Komik. So ist Harrison nicht einfach Journalist, sondern "Spezialist für politisch-ideologische Zersetzungsarbeit". Wo Einzelschicksale hinter den Worthülsen stehen, erscheinen sie zynisch. Wer der BBC Briefe schreibt, wie der Schüler Karl-Heinz Borchardt, ist innerhalb des SED-Weltbilds "gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR feindlich tätig" und wird "seiner gerechten Strafe zugeführt."
Die Sendung wird 1974 eingestellt, zum Leidwesen vieler treuer Hörer_innen. Die Gründe dafür sind nicht bekannt. Einerseits gab es immer weniger Briefe, auch, weil immer mehr abgefangen wurden. Andererseits passte das Format womöglich nicht mehr zu dem Kurs der Entspannungspolitik, den Westeuropa einschlug.
Bei der Buchpremiere am 3. April 2017 erklärt Susanne Schädlich im Gespräch mit Joachim Widmann, dass spätestens in den Achtzigerjahren ohnehin keine Briefe mehr ihr Ziel erreicht hätten, denn bis dahin hatte das MfS seine Kontrollen perfektioniert. Sie berichtet auch von ihren weiteren Recherchen: Auf die Briefeschreiber_innen wurden pro Ermittlung 30 bis 40 Agent_innen angesetzt. Die Zahl derer, die gefasst und verurteilt wurden, ist jedoch bis heute unbekannt.
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© AVIVA-Berlin, Lisa Baurmann. Susanne Schädlich im Gespräch mit Joachim Widmann bei der Berliner Buchpremiere am 3. April 2017 in der Kulturbrauerei |
Auseinandersetzung mit der (eigenen) VergangenheitDie Perfidität der Stasi-Methoden hat Schädlich selbst erfahren müssen, wie sie in ihrem Bestseller "Immer wieder Dezember – Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich" schildert. Besagter Onkel spionierte als "IM Schäfer" jahrelang die eigene Familie aus, bis diese 1977 in die BRD ausreisen musste. West- wie Ostberliner Intellektuelle gehörten zu seinen Bekanntschaften, die er ebenfalls bespitzelte. Darunter auch die Namen der drei BBC-Journalisten, die Kontakte in Ostberlin unterhielten und für "Briefe ohne Unterschrift" mitverantwortlich zeichneten. So war es die Familiengeschichte der Autorin, die sie über
Hinweise in der Stasiakte des Onkels auf die Spur der Radiosendung brachte.
Die Verwobenheit von Schädlichs eigener Vergangenheit mit Repression und Überwachung in der DDR mag erklären, warum sie die Geschehnisse im Buch immer wieder politisch einordnet und beurteilt, teilweise in ihrer eigenen Stimme, aber noch öfter in den Stimmen der BBC-Journalisten, denen sie Gedanken und Dialoge in den Mund legt. Das wird nicht allen Leser_innen gefallen. Das muss es allerdings auch nicht. Die Geschichte, die sie mit historischem Feingefühl aufdeckt, ist an sich schon so spannend, dass sich das Lesen in jedem Fall lohnt und auch darüber hinwegsehen lässt, dass die fiktiven Gespräche bisweilen auffallend gekünstelt wirken. Im Interview mit Rory MacLean im November 2009 ermahnt Schädlich:
"Wir können uns mit der Geschichte nicht auseinandersetzen, wenn wir durch eine rosarote Brille schauen." Ihr neuestes Werk sollte in diesem Sinne verstanden werden: Als Beitrag zu einer
möglichst ungeschönten Auseinandersetzung mit diesem Teil der deutschen Vergangenheit.
AVIVA-Tipp: Ein bisher so gut wie unbeschriebenes Blatt der DDR-Geschichte hat Susanne Schädlich in ihrem neuen Buch mit viel Gespür für persönliche Schicksale aufgearbeitet. Aber auch unabhängig von historischem Interesse vermag die spannungsvolle Erzählung zu faszinieren, die sie um die überlieferten Zeitdokumente entstehen lässt.
Zur Autorin: Susanne Schädlich, geboren 1965 in Jena, ist Schriftstellerin und Übersetzerin. 2009 veröffentlichte sie den Bestseller "Immer wieder Dezember – Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich". Für ihr Buch "Westwärts, so weit es nur geht" erhielt sie 2015 den Seume-Literaturpreis. Susanne Schädlich lebt in Berlin.
Susanne SchädlichBriefe ohne Unterschrift. Wie eine BBC-Sendung die DDR herausforderteKNAUS VERLAG, erschienen: März 2017
Gebundene Ausgabe, 304 Seiten
ISBN: 978-3-8135-0749-2
www.randomhouse.deMehr Infos:Lesungstermine mit Susanne Schädlich:
www.randomhouse.deSusanne Schädlich als Zeitzeugin:
www.zeitzeugenbuero.deSusanne Schädlich im Interview mit Rory MacLean:
www.goethe.deWeiterlesen auf AVIVA-Berlin:Susanne Schädlich – Immer wieder Dezember. Der Westen, Die Stasi, der Onkel und ich2009, ein Jubiläums-Jahr: Die offiziellen, kollektiven wie persönlichen "Jahrestage" jähren sich. Gefeiert und erinnert werden nicht alle. Die Schattenseiten der Geschichte(n) werden gerne vergessen, verschwiegen, verklärt oder idealisiert. Doch es gibt Unrecht, die Schuld des Einzelnen wie auch der Gesellschaft – die verjähren nicht und sie werden es nie! (2009)
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