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Beitrag vom 25.04.2017
Noemi Schneider - Das wissen wir schon
Lisa Baurmann
Weltweit Bürgerkrieg und Flucht, in Deutschland wieder einmal zunehmender Rechtspopulismus und Resignation: An der Welt gäbe es heute viel zu verbessern. Von der Generation, der dies zwischen Burnout und Selbstzweifeln nicht gelingen will, und warum es trotzdem...
... Grund zur Hoffnung gibt, erzählt die Regisseurin, Autorin ("Kick It, Walaa!") und Gewinnerin des Edit Essaypreis 2013 in einer absurd-komischen Bestandsaufnahme.
Noemi Schneider stellt ihrem Roman drei Fragen Immanuel Kants voran:
"Was können wir wissen?
Was sollen wir tun?
Was dürfen wir hoffen?"
Im Interview mit dem WDR5 beantwortet sie sie selbst knapp, aber treffend mit "Nicht viel.", "Viel." und "Alles!"
Politischer Anspruch und Realität
Viel tun und alles hoffen, mit diesem hehren Anspruch ist die Ich-Erzählerin im Roman aufgewachsen. Denn ihre Mutter ist seit Jahrzehnten damit beschäftigt, die Welt zu retten – auf Demos, Kampagnen, im eigenen Haus, aktionistisch, ohne Kompromisse. Aber die Tochter hat die Realität längst eingeholt. Sie ist über 30, Stadtbewohnerin, mäßig erfolgreiche Filmregisseurin zwischen ermüdenden Antragsschreiben und langweiligem Nebenjob, und: sie zweifelt an allem.
Für sie und ihre Generation ist die ernüchternde Antwort auf die erste Frage, nach dem Wissen, in den Vordergrund gerückt. Wie sollen wir wissen, was wir tun sollen, wenn wir die Konsequenzen unserer Handlungen gar nicht in Gänze überschauen können? Die offenen Fragen und das Gefühl des Nichtwissens lähmen. Für die Mutter und deren Freundinnen war vieles noch klarer.
Das Vertrauen in einfache Antworten und Aktionismus hat die Protagonistin verloren, als sie vor Jahren zusammen mit ihrer Jugendliebe zweitausend Nerze von einer Pelztierfarm freigelassen hat – direkt neben einer Autobahn. Die toten Nerze lasten bis heute auf ihrem Gewissen.
Die Tochter, ausgebrannt und desillusioniert, fährt zur Mutter aufs Land auf der Suche nach einer Auszeit. Aber in ihrem alten Zimmer wohnen nun Laila und Aziz aus Syrien, die ein Kind erwarten. Für die nichtexistentiellen Sorgen einer Mittdreißigerin mit Einkommen und eigener Wohnung ist da kein Platz. "Erklär doch Laila bitte mal, was eine Auszeit ist!", lacht die Mutter.
Wenig später zieht auch noch Mustafa im Gartenhaus ein, dem die Abschiebung droht. Mustafa ist der Kindheitsfreund der Tochter, der in Deutschland aufgewachsen, zum Dschihadismus übergelaufen und nun in den Hungerstreik getreten ist. Das Ganze entwickelt sich schnell zum medialen wie politischen Spektakel.
Geschärfter Blick auf die Gegenwart
Noemi Schneider hat ihren geschärften und dabei humorvollen Blick auf die Gegenwart bereits in ihren vorherigen Veröffentlichungen unter Beweis gestellt. Mit "Oh Boy, ich hasse Rot" gewann sie 2013 den Edit Essaypreis. In dem Text taucht die gleiche Mutterfigur wie in ihrem aktuellen Buch auf – emanzipiert, kiffend, die Welt rettend – und ist dort immer wieder der Bezugspunkt für die Auseinandersetzung der Autorin mit zeitgenössischen (post-)feministischen Debatten. Die Radiofassung vom BR2 bietet einen hörenswerten Eindruck von Schneiders erfrischendem Stil und ihrer Perspektive auf Politik und Gesellschaft, die sie auch in "Das wissen wir schon" einnimmt.
Der Roman ist in mehrerlei Hinsicht hochaktuell. Zunächst sind da die Widersprüche im Leben der Tochter, die von einer ganzen Generation erzählen: Das Gefühl, die Utopie der Eltern ohnehin nicht erreichen zu können, aber trotzdem das Unbehagen mit dem Ist-Zustand der Welt nicht loszuwerden. Sich lieber auf das eigene gute Leben zu fokussieren, aber auch dort nie anzukommen. Das Gefühl, zu viele Kompromisse einzugehen, und doch zu unsicher zu sein, um die eigenen Vorstellungen durchzusetzen. Neben die persönlichen Konflikte tritt eine paradoxe und manchmal überfordernde Gegenwart. Die Autorin zeichnet in ihrem Buch auf geniale Weise ein Gesellschaftsbild, in dem sich aktuelle Geschehnisse und Entwicklungen in überspitzter Form wiederfinden. Dazu gehören die bornierte Kulturszene in der hippen und durchgentrifizierten Großstadt, die omnipräsenten alten und neuen Rechten, aber auch eine Willkommenskultur, die sogar in bayerischen Dörfern Fuß fasst. Allgegenwärtig ist in der Romanwelt auch die Angst vor islamistischem Terror, der bereits im Reality-TV-Format – mit dem köstlichen Titel "Meet the Dschihadi" – ausgeschlachtet wird.
"Die Nichten werden´s richten"
Fast ist es eine – die Pessimistin würde sagen, nicht allzu ferne – Dystopie, die die Autorin schafft. Und dennoch verharrt die Ich-Erzählerin nie lange in Klagen und Selbstmitleid. Widersprüche und Gegensätzlichkeiten thematisiert sie humorvoll-distanziert und mit einer gehörigen Portion Sarkasmus. Dies in einer lockeren, unaufgeregten Sprache und mit pointierten Dialogen. Auf das Kant-Zitat folgt Eko Fresh, der Dschihadist befreundet ausgerechnet einen Nerz. Schließlich mischen sich unter die Realsatire absurd-surreale Szenen und Traumsequenzen, die uns in die Wunschwelt der Protagonistin entführen, in der sie ihre Zweifel ablegen kann und mit sich und der Welt im Reinen ist.
Aber vor allem die bereits heranwachsende nächste Generation, in Gestalt der Teenager-Nichten der Nachbarin, ist der Lichtblick in der trüben Gegenwart. Mit zwölf Jahren sind sie medial versiert, erfinderisch, abgebrüht, aber doch mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Wie schon die Mutter halten die Nichten der Ich-Erzählerin den Spiegel vor, denn wo diese noch grübelt, handeln sie mit jugendlicher Spontaneität – selbstverständlich mit Vorliebe online, auf Facebook oder Twitter. Die in der Geschichte richtungsweisende Prophezeiung "Die Nichten werden´s richten" gilt also womöglich über die Romanhandlung hinaus.
Am Ende kann das Buch als Aufforderung verstanden werden, wieder anzufangen zu wünschen, zu träumen, und endlich zu handeln. Also frei nach Immanuel Kant und Noemi Schneider: Viel tun und alles hoffen!
AVIVA-Tipp: Noemi Schneiders zweites Buch liefert nicht nur eine treffende und bisweilen hoch amüsante Beschreibung des Ist-Zustands, sondern weckt auch die Hoffnung, dass darin noch Platz für Träume von einer besseren Welt ist. Und dass nicht alles immer schlimmer wird, aber anders. Die Perspektive der politisch gebildeten, kulturell interessierten und sozial abgesicherten Großstädterin, die letztlich Luxussorgen hat, verlässt der Roman dabei selten, und ist damit offensichtlich für eine bestimmte Zielgruppe geschrieben. Mit dieser Einschränkung ist er eine zögernde, zweifelnde, aber zuversichtliche und humorvolle Antwort auf zunehmende Resignation in Zeiten von Krieg, Krise und Rechtspopulismus, die wir gerade bitter nötig haben.
Zur Autorin: Noemi Schneider wurde 1982 in München geboren. Sie studierte Publizistik und Regie an der HFF München. Darauf folgten die freie Mitarbeit als Redakteurin bei Deutschlandradio Kultur und der Dokumentarfilm "Walaa!" über die israelisch-palästinensische Fußballspielerin Walaa Hussein. 2013 erschien das zugehörige Buch "Kick it, Walaa!" Im gleichen Jahr erhielt sie den Edit Essaypreis für ihren Text "Oh Boy, ich hasse Rot", der sich mit Feminismus in Zeiten von "Germany´s Next Topmodel" und Alice Schwarzer in der BILD auseinandersetzt. Sie lebt in München und Tel Aviv.
Mehr Infos:
www.hanser-literaturverlage.de – Die Autorin bei Hanser Berlin
zehnseiten.de – Video: Noemi Schneider liest aus "Das wissen wir schon"
www.imdb.com – Filme von Noemi Schneider
Noemi Schneider
Das wissen wir schon
Hanser Berlin, erschienen: März 2017
Gebunden, 192 Seiten
ISBN: 978-3-446-25507-4
www.hanser-literaturverlage.de