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Beitrag vom 02.05.2017
Angelika Grubner - Die Macht der Psychotherapie im Neoliberalismus. Eine Streitschrift
Hannah Hanemann
Die österreichische Psychotherapeutin nimmt ihr eigenes Berufsfeld kritisch unter die Lupe und betont in einer ernüchternden Analyse den Einfluss neoliberaler Strukturen auf die moderne Psychotherapie. Ein komplexes, konsequentes und kritisches Buch für Philosophie-affine Leser*innen und Psychotherapeut*innen.
"Das psychologische Jahrhundert ist vorbei" singt Kabarettist und Liedermacher Rainald Grebe in seinem gleichnamigen Stück durchaus ironisch. Dass das psychologische Jahrhundert mitnichten vorbei ist, ist eine der zentralen Prämissen in Angelika Grubners Abhandlung über die Verflechtung von Neoliberalismus und Psychotherapie, die sie offensiv mit "Eine Streitschrift" untertitelt hat.
Denn die Psychologisierung des Individuums sei, so Angelika Grubner, nicht nur allseits präsent, sondern zudem Produkt und Werkzeug des neoliberalen Systems.
Diese These begründet die Autorin sehr gründlich und nachvollziehbar in fünf Kapiteln, in denen sie ihre Definition des Neoliberalismus als nicht bloß ökonomisches, sondern ideelles Phänomen erklärt, Michel Foucaults Theorien der Macht darlegt, auf die sich ihre Überlegungen stützen, und schließlich Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge bezüglich der modernen Psychotherapie vorstellt.
"Mach doch mal eine Therapie"
In ihrem Buch beschreibt Angelika Grubner ein zirkuläres Machtverhältnis zwischen neoliberaler Ideologie und Psychotherapie. Letztere werde von ersterer beeinflusst und geformt, um dann die Ideologien der ersten zu stärken und zu reproduzieren.
"Jede ist ihres Glückes Schmiedin" - so der Schlachtruf einer Gesellschaft, in der die Ursachen für Leid, Unzufriedenheit und Versagen grundsätzlich beim Individuum gesucht werden. In diese Kerbe schlägt laut Grubner die Psychotherapie, in deren Verlauf die Patientin lernt, sich im neoliberalen System besser zu behaupten und sich in Folge dessen besser in es einzugliedern, besser in ihm zu "funktionieren". Körper und Psyche werden als Maschine begriffen, deren Pflege vor allem eine größere Effizienz und Leistungssteigerung zum Ziel hat. Grubner verweist hier unter anderem auf die Wiederspiegelung dieser Mentalität in der Sprache: Wir sprechen davon "mal aufzutanken", "den Preis für etwas zu bezahlen", uns möglichst gut zu "verkaufen" oder uns zu "vermarkten". Begriffe wie "Selbstoptimierung", "Selbstverwirklichung" und "inneres Potential" suggerieren, dass der Schlüssel zum glücklichen Leben immer schon in uns schlummert, jedoch durch die Psychotherapie erarbeitet und hervorgebracht werden muss. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber auch, dass wer immer sich in der Gesellschaft unglücklich oder abgehängt fühlt, sich an die eigene Nase bzw. Psyche fassen muss. Denn dass "innere Potential" wäre ja da, machte Mensch sich nur die Mühe es zu vervollkommnen!
Dieser Ansatz passt perfekt ins neoliberale Gefüge, auch deshalb, weil er Kritik an Regierung und System von vornherein ausschließt und auf das Individuum zurückwirft. Dem bleibt der gute Rat: "Mach doch mal eine Therapie!"
Das sich selbst regierende Selbst
Dass diese Sichtweise von Eigenverantwortung und Selbstoptimierung durch Selbstanalyse ein Phänomen der Neuzeit ist, macht Grubner anhand einer kurzen Untersuchung über die Geschichte der Psyche deutlich. Der Begriff der Psyche als innersten Kern des Menschen etablierte sich so wie wir ihn heute verstehen nicht vor dem 18. Jahrhundert. Zuvor wurde stattdessen von einer Seele als transzendenter Instanz ausgegangen, vom Menschen als "einzelnem Träger einer allgemeinen Seelensubstanz" innerhalb einer vorgegebenen göttlichen Ordnung. Erst im Rahmen der Aufklärung löste sich das Verständnis des Menschen vom Göttlichen und richtete sich stattdessen auf die Vernunft. Im Rahmen dieses neuen Menschenbildes entwickelte sich die gottgegebene beständige Seele zur individuellen und formbaren Psyche. Der Mensch, der zuvor seinen Platz als über-individuelles Glied in einer göttlichen Fügung einnahm, wurde zum handlungsfähigen Individuum innerhalb einer politischen Machtordnung erklärt. Einer Machtordnung, die in neoliberalen Zeiten erst durch die aktive Selbst-Regierung ihrer Mitglieder*innen überhaupt in Kraft tritt.
Der Philosoph Michel Foucault entwickelte im 20. Jahrhundert für dieses Phänomen den Begriff der "Gouvernementalität", mit dem er eine Macht beschrieb, die nicht von "oben nach unten" durch die Repression durch einen Souveräns auf das Volk erfolgt, sondern in der die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft "aktiv an ihrer Subjektwerdung mitwirken." Die oder der einzelne macht sich im Sinne der "Gouvernementalität" selbst zum Instrument der Regierung, indem sie oder er nicht nur als Privatperson fungiert, sondern zugleich als regierende und regulierende Instanz auf sich selbst. Das (selbstverständlich gewordene) Denken in ökonomischen Dimensionen, das Gefühl einer permanenten Überwachung und Subjektivierung, sowie der Druck der Konformität nehmen dem Staat gewissermaßen die Arbeit ab: das Individuum muss nicht länger von außen unterdrückt werden, sondern es unterdrückt sich selbst.
Grubner kritisiert, dass auch die Psychotherapie als lösungsorientierte Selbstanalyse sich von diesen Mechanismen nicht frei machen kann und verstärkt zur Selbstdisziplinierung im Sinne der vorherrschenden Ideologie wird, während es diese zugleich immer weiter reproduziert. Im letzten Kapitel ihres Buches appelliert sie deshalb an eine Modifizierung der modernen Psychotherapie, die sich über ihre eigene Einbettung in Politik - und Machtstrukturen bewusst werden und sich von diesen emanzipieren muss.
"Die Macht der Psychotherapie im Neoliberalismus" ist sicherlich keine leichte Kost, zum einen wegen der sehr dichten Fülle an Informationen, zum anderen wegen seines pessimistischen Inhalts. Die Leserin, die sich auf die Lektüre einlässt, erhält anhand der konsequenten und verständlichen Analyse jedoch einen aufschlussreichen philosophischen Einblick in die vielschichtige Thematik. Für Arbeiter*innen im psychotherapeutischen Bereich bietet das Buch außerdem praktische Anreize, sich der eigenen Arbeitsweise aus einem ungewohnten und kritischen Blickwinkel zu nähern.
AVIVA-Tipp: Angelika Grubners Streitschrift "Die Macht der Psychotherapie im Neoliberalismus" ist eine ernüchternde Abrechnung mit den subtilen Machtmechanismen der Gegenwart, wie sie auch in der Psychotherapie zu tragen kommen. Durch ihre wissenschaftliche, jedoch gut verständliche und präzise Sprache macht die Autorin die hochkomplexe Thematik auch der philosophisch ungeschulten Leserin zugänglich und öffnet den Blick auf ein weitgehend unbeleuchtetes Problem der modernen Psychotherapie.
Zur Autorin: Angelika Grubner arbeitete bis 2000 als diplomierte Sozialarbeiterin in einer Niederösterreichischen Landesnervenklinik und ist heute als Psychotherapeutin in freier Praxis tätig. Sie veröffentlichte diverse Fachartikel mit dem Schwerpunktthema Psychotherapie im Spannungsfeld von (feministischer) Philosophie und Politik. 2014 erschien im Carl-Auger Verlag ihr erstes Buch "Geschlecht therapieren. Andere Erzählungen im Kontext narrativer systemischer Therapie".
Angelika Grubner
Die Macht der Psychotherapie im Neoliberalismus. Eine Streitschrift
Mandelbaum Verlag, erschienen Februar 2017
386 Seiten, englische Broschur
ISBN: 978385476-663-6
20,00 Euro
www.mandelbaum.at
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