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Beitrag vom 10.05.2017
Antonia Roeller - Die Prinzessin erwacht. Von der Wichtigkeit, Verantwortung zu übernehmen - für sich selbst und für die Gesellschaft
Antonia Roeller
Die Autorin und Dramaturgin, Verfasserin des eEssays "Karrieresüchtig, machtversessen, einsam? Die Darstellung weiblicher Führungskräfte in Film und Fernsehen", schreibt hier über das Bild weiblicher Märchenfiguren. Das ebook ist ebenfalls in der Master School Drehbuch EDITION erschienen.
Zweifelsohne sollten uns die politischen Ereignisse der vergangenen Monate wachgerüttelt haben. Die Wahl eines offen sexistischen agierenden Mannes zum US-Präsidenten beweist, auf welch wackligem Boden die eigentlich sicher geglaubten Errungenschaften der Gleichberechtigung stehen. Auch in Europa lässt das Frauenbild einiges zu wünschen übrig, wie die EU-Studie "Gender-based violence" beweist, in der rund ein Viertel aller Befragten angab, dass Vergewaltigung unter bestimmten Umständen gerechtfertigt sein kann.
Umso wichtiger ist es, kommende Generationen bereits früh für das Thema der weiblichen Emanzipation zu sensibilisieren und ihnen positive Vorbilder zu liefern. Dem Genre der Märchen kommt hier eine besondere Bedeutung zu, denn sie transportieren von frühester Kindheit an moralische Botschaften. Doch während diese früher zumeist erzählt oder vorgelesen wurden, treten heute vermehrt Film- und Fernsehadaptionen in den Vordergrund. In meinem eBook Die Prinzessin erwacht. Moderne Märchenheldinnen in Film und Fernsehen habe ich diese u. a. im Punkt Selbstbestimmung untersucht.
Der Reifeprozess eines Mädchens, der häufig durch eine erzwungene Trennung vom familiären Umfeld bedingt ist, ist ein elementarer Teil vieler Märchen. Die Heldin muss an Herausforderungen wachsen, um dann, psychisch gereift, bereit zu sein für den nächsten Schritt in ihrem Leben – die Ehe. In einigen Erzählungen findet dies gar durch Demütigung statt. Hier drückt sich letztendlich das patriarchalische System aus, in dem sich der Mann die Frau aneignet, um durch sie Nachkommen zu sichern. Abweichende Lebenspläne werden mit Verdrängung an den Rand der Gesellschaft geahndet und durch die Figur der Hexe symbolisiert. Die Entwicklung dieser ist auf die von Männern dominierte Gesellschaft des Mittelalters zurückzuführen. Bis um 1500 waren die Medizin und damit auch die Geburtskunde fest in weiblicher Hand. Dies gab Frauen in Heilberufen gesellschaftliche Macht. Im Zuge der Hexenverfolgung wurden diese Frauen dann bekämpft. Diese Zweiteilung der weiblichen Märchenfiguren in das gute, jedoch passive junge Mädchen und die selbstbestimmt agierende, doch dafür verteufelte Gegenspielerin in Form der Stiefmutter oder Hexe ist genretypisch und bietet dem Publikum somit nur eine einzige Identifikationsmöglichkeit.
Dass dies in modernen Adaptionen nicht zwangsläufig der Fall sein muss, beweist der oscarprämierte Film Die Eiskönigin, welcher 2013 international das größte Einspielergebnis hervorbrachte. Lose auf dem Märchen Die Schneekönigin von Hans Christian Andersen basierend, erzählt der Film von den Prinzessinnen Elsa und Anna. Die unbekümmerte Beziehung der Schwestern erleidet einen Rückschlag, als Thronfolgerin Elsas Fähigkeit, Dinge durch ihre Emotionen in Schnee und Eis verwandeln zu können, beinah zum Tod Annas führt. Die besorgten Eltern isolieren die beiden von nun an voneinander, um sie zu schützen. Vor allem aber soll Elsa ihre Emotionen unterdrücken und somit ihr wahres Ich und ihre angeborene Macht verbergen. Dies führt dazu, dass Elsa von Selbstzweifeln geplagt aufwächst und sich am Tag ihrer Thronbesteigung von der Verantwortung erdrückt fühlt.
Eine Konfrontation zwischen den Schwestern führt dazu, dass Elsa durch einen Gefühlsausbruch das Königreich unter einer Eisschicht begräbt und aus ihrem Königreich flieht.
Die Verweigerung, Verantwortung für ihr Tun zu übernehmen, wirkt jedoch wie ein dringend benötigter Befreiungsschlag. Zum ersten Mal ist Elsa frei und kann ihre Fähigkeit ausleben, ohne Angst vor der Verurteilung anderer zu haben. So erschafft sie ein Eisschloss nach ihren Vorstellungen und ersetzt ihr traditionelles Krönungsgewand durch ein funkelndes Kleid aus Eiskristallen. Sie wirft ihre Krone davon als Zeichen, dass sie mit ihrer Vergangenheit abgeschlossen hat. Diese äußere Verwandlung signalisiert ihre veränderte Einstellung zu ihrer persönlichen Macht. Der Wandel vom angepassten Mädchen zur selbstbestimmten Frau ist vollzogen.
Und doch ist sie immer noch isoliert von anderen Menschen und somit dem Archetyp der Hexe gleich. Doch hier wird ein ambivalentes Frauenbild gezeichnet, das in den literarischen Vorlagen so nie in Erscheinung tritt. Statt einer strengen Unterteilung in Gut und Böse wird der Kampf zwischen dem Drang nach Individualität und dem Bedürfnis, Teil einer Gemeinschaft zu sein, dargestellt. Elsas Macht eröffnet ihr einerseits ungeahnte Möglichkeiten, steht ihr aber auch gleichzeitig im Weg. Obwohl sie jetzt nach eigenen Vorstellungen lebt, muss sie lernen, auch Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Hier tritt eine Parallele zur modernen Frau zutage, der die Gleichberechtigung nicht nur größere Freiheit als vergangenen Generationen schenkt, aber auch mehr Eigenverantwortung abverlangt, auch im Hinblick auf die aktive Gestaltung der Gesellschaft.
Im Laufe der Handlung sieht sich Elsa dann vermehrt Angriffen ausgesetzt und wird sogar in Ketten gelegt, da sie in den Augen der männlichen Umwelt eine Bedrohung darstellt. Aufgrund ihrer Gefühlsimmunität kommt sie nicht als Heiratsobjekt infrage und aufgrund ihrer Macht muss sie bekämpft werden. Sie wird sogar öffentlich als Monster angeprangert. Auch moderne Frauen sehen sich manchmal direkten oder indirekten Anfeindungen ausgesetzt, wenn sie ihre eigenen Prioritäten über die anderer stellen. Und wurden unliebsame Frauen lange Zeit abfällig als Hexe beschimpft, so wird heute der Begriff Feministin beinah negativ assoziiert.
Schließlich gelingt es Elsa, die Beziehung zu ihrer Schwester zu heilen und so gemeinsam das Königreich zu retten. Durch ihren Reifeprozess lernen wir somit nicht nur, das Erwachsenwerden und Emanzipation mit vermehrter Verantwortung für das eigene Handeln einhergeht, sondern auch die Wichtigkeit weiblichen Zusammenhalts in der Gesellschaft.
Zur Autorin: Antonia Roeller studierte Drehbuch an der UCLA. Seither ist sie in Berlin als freie Autorin und Dramaturgin tätig. Sie war u.a. bei den Frauenfilmtagen in Wien und der Berlin Feminist Filmweek zu Gast. Auch unterrichtete sie an der Master School Drehbuch ein Seminar zur Entwicklung komplexer Leinwandheldinnen. In deren Verlag erschienen ihre eEssays Karrieresüchtig, machtversessen, einsam? Die Darstellung weiblicher Führungskräfte in Film und Fernsehen (2014) und Die Prinzessin erwacht. Moderne Märchenheldinnen in Film und Fernsehen (2016).
Mehr zum eBook Die Prinzessin erwacht. Moderne Märchenheldinnen in Film und Fernsehen unter:
www.masterschool.de
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