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Beitrag vom 29.05.2017
Jasna Zajček - Kaltland. Unter Syrern und Deutschen
Lisa Baurmann
Die Journalistin und Autorin ("Ramadan Blues", "Unter Soldatinnen") war mehrere Monate Deutschlehrerin für Geflüchtete in Sachsen. Den Alltag im Heim und dessen Missstände dokumentiert sie in ihrem Erfahrungsbericht "Kaltland" ebenso wie...
...offenen Rassismus der Dorfbewohner_innen.
"Es ist deutsch in Kaltland" dichtete die Punkband Toxoplasma in einem Song aus dem Jahr 1994. Wenige Jahre zuvor waren der nach der Wiedervereinigung neu erstarkte Nationalismus und die politische wie mediale Hetze gegen Asylsuchende in den rassistisch motivierten Ausschreitungen in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen kulminiert.
"Verschlossene Türen und Fenster
Geflüster hinter vorgehaltener Hand
Ich spür´ die Blicke hinter weißgewaschenen Gardinen
Seh´ Kinder spielen zwischen Unkrautex und Sagrotan"
"Hier ist Kaltland"
Im Sommer 2015 brennen in Deutschland wieder Flüchtlingsunterkünfte. Und auf verschlossene Türen stößt die Autorin im Ort Tipschitz nahe Bautzen, in dem sie in einem Asylbewerber_innenheim mit dem Namen "Haus am Wald", bezahlt von einem Start-Up-Unternehmen, freiwilligen Deutschunterricht für syrische Geflüchtete anbieten soll. "Hier ist Kaltland", ist einer ihrer ersten Gedanken, als sie in der sächsischen Provinz ankommt. Und während der kommenden Monate wird sie nicht nur beobachten, wie die Geflüchteten große Schwierigkeiten haben, sich dort zu integrieren, wo lautstarke Demonstrationen und gewalttätige Übergriffe ihnen veranschaulichen, dass sie nicht willkommen sind. Auch Zajček selbst wird kaum Anschluss finden in den dörflichen Strukturen, zwischen sogenannten besorgten Bürger_innen und AfD-Anhänger_innen.
Vor den verschlossenen Türen scheut sie jedoch nicht zurück. Als investigative Journalistin, die in Undercover-Recherchen geübt ist, beobachtet sie und hält schriftlich fest, so viel sie kann. Im Video-Interview sagt Jasna Zajček: "Die größte Herausforderung beim Schreiben dieses Buches, war, keine Meinung einfließen zu lassen. Wirklich nur kalt und nüchtern, mit der kalten Radiernadel, zu beobachten [...]"
"Mit der kalten Radiernadel"
Das nüchterne Beobachten, ohne zu bewerten, ist besonders in der politisch aufgeladenen Situation kein einfaches Unterfangen. Nicht da, wo die Autorin auf den offen rechtsextrem auftretenden Nachbarn trifft, der wie beiläufig Bilder von Adolf Hitler auf seinem Handy zeigt, alles natürlich nur "lustig" gemeint. Und auch nicht da, wo die Bewohner_innen des Heims, in dem sie unterrichtet, sich über Homosexuelle oder emanzipierte Frauen echauffieren. Dennoch gelingt ihr oft eine erstaunlich nüchterne Darstellungsweise.
Besonders in den Szenen, in denen sie Versammlungen "besorgter Bürger" oder fremdenfeindliche Demonstrationen besucht, offenbart sich Zajčeks investigatives Geschick. Sie hält sich zunächst zurück, hört zu, stellt bisweilen vorsichtige Fragen, um die Angesprochenen zum Reden zu bringen. So gelingen ihr Einblicke, die trotz der umfassenden medialen Berichterstattung zu Pegida-Demonstrationen und AfD-Kundgebungen schockieren. Allzu alltäglich erscheinen Rassismus, rechte Propaganda, übersteigerte Angst und Wut. Eine Frau auf der Ortschaftsratsversammlung empört sich, die neu eingerichteten Schulbusse im Dorf würden ihr nicht helfen: "[…] meine Tochter fährt da nicht mehr alleine Bus, ich muss sie jetzt immer bringen, die Busse sind voller Schwarzer!" Und der Dorfpolizist, mit dem die Journalistin spricht, gebraucht Worte aus dem Reichsbürger_innen-Jargon wie "BRD GmbH" und "Umvolkung".
Misstrauen, Vorurteil, Geringschätzung
Im "Haus am Wald" hat Zajček jedoch nicht nur die Rolle der Journalistin, sondern auch die der Deutschlehrerin inne. Die Rolle einer Deutschlehrerin, die als ehemalige Auslandskorrespondentin und Reiseleiterin in Syrien und im Libanon fließend Arabisch spricht und mit deutsch-syrischem Kulturaustausch bereits Erfahrung hat. Als solche verlässt sie bisweilen die neutrale Perspektive – allerdings nicht zugunsten von übertriebenem Mitgefühl oder Enthusiasmus. Im Gegenteil, Zajčeks protokollierte Beobachtungen und ihr eigenes Verhalten sprechen oft unterschwellig, aber tastbar, eine Sprache von Misstrauen, Vorurteil und Geringschätzung.
Der Umstand etwa, dass die Gemeinschaftsküche nach der Benutzung nicht gesäubert wird, veranlasst sie dazu, ihre bisherigen Erfahrungen zu verabsolutieren: "Der arabische Mann ist es seit Jahrtausenden gewohnt, von Frauen bedient zu werden, die von Geburt an zum Dienen erzogen werden. Dieser Punkt steht also keinesfalls zur Diskussion."
In puncto Misstrauen ist sich Zajček, ohne Hinweise außer dem von ihr als herrisch wahrgenommenen Auftreten von ein paar älteren Männern, "[g]anz sicher [...], dass einige hier im Heim nicht nur mit allen Wassern gewaschen sein müssen. Sie werden auch einiges auf dem Kerbholz haben. Viele, die sich hier als Flüchtlinge ausgeben, werden jahrelang beim Militär, der Polizei oder den Geheimdiensten gewesen sein."
Zu der jungen, alleinstehenden, westlich gekleideten Frau aus Damaskus passt es in ihren Augen offenbar nicht, dass sie vier Kinder hat: "keines hat ihren hellen Teint [...] – die müssen ihr mitgegeben worden sein", mutmaßt die Autorin. Eine Annahme aufgrund von vagen Eindrücken, die sich später – wenig überraschend – als falsch herausstellt.
Altenpfleger statt Arzt, Bautzen statt Berlin
Als viele Bewohner_innen nach den ersten Stunden vom Unterricht fernbleiben, schließt sie, die Abwesenden wüssten "anscheinend schon zu viel Gutes über unser Sozialsystem" – statt die Lernumstände, wie etwa die unterschiedlichen Alphabetisierungsgrade, oder gar die eigenen Lehrmethoden als Gründe für das Fehlen in Betracht zu ziehen.
Während einer Unterrichtsstunde bespricht sie mit den Schülern (die Schülerinnen nehmen längst nicht mehr am Kurs teil) bisherige Berufserfahrungen und Jobwünsche. Die Angaben dazu schätzt Zajček allesamt als übertrieben oder naiv ein, und legt nahe, die Träume vom Medizin- oder Ingenieursstudium gleich aufzugeben: "Ich werfe ein, dass wir genügend Hochqualifizierte hätten, die Unis voll seien und Deutschland dringend Altenpfleger, Kindergärtner und Systemgastronomen benötigen würde." Was als gut gemeinter Ratschlag aufgrund der bürokratischen und sprachlichen Hürden auf dem Weg zum Studium gemeint sein mag, liest sich paternalistisch und durchaus ein wenig herablassend.
Auf eine ähnliche Art rät sie der jungen Frau mit den vier Kindern, nicht, wie die Großstädterin es sich wünscht, nach Berlin-Neukölln zu ziehen, sondern in Bautzen zu bleiben. Der Vergleich der Wohnungsmärkte spricht objektiv für die sächsische Kleinstadt. Die nach eigenen Angaben in der Nähe der Friedrichstraße wohnende Autorin macht sich jedoch noch andere Sorgen über den Wunschwohnort: "Würde ihr kleiner Sohn, acht, dort in vernünftige Kreise kommen, würden ihre beiden Töchter, die gerne tanzen und Akrobatik machen, dort nicht angefeindet – als hübsche Teenager ohne Interesse am Kopftuch?" Die Einschätzung des muslimischen Lebens in Neukölln, die hier mitschwingt, könnte so einer effektheischenden Exklusiv-Reportage aus dem Nachmittagsfernsehen entstammen, ebenso wie ihre Beschreibung der Sonnenallee: "Sie ist eine vermeintlich multikulturell, in Wirklichkeit aber sehr einseitig arabisch-muslimisch-konservativ geprägte kilometerlange Straße in einem ärmeren Teil Berlins, der aber gerade unter jungen westlichen Zugereisten als ´hip´ gilt [...]." Unabhängig von Zustimmung oder Ablehnung zu einer solchen Einschätzung lässt sich festhalten, dass Zajčeks Beobachtungen nicht so nüchtern und neutral sind, wie sie behauptet. Ihre Meinungen, Urteile und Tendenzen scheinen allzu oft transparent hindurch.
AVIVA-Fazit: "Kaltland" ist kein einfaches Buch. Die Zustände, die Zajček beschreibt, sind schwierig. Ebenso schwierig ist stellenweise deren Einordnung durch die Autorin. Wer darüber hinweglesen kann, gewinnt allerdings einen ungefilterten Eindruck des Integrationsalltags in der sächsischen Provinz. Zunächst scheint dieser wenig Gründe für Optimismus zu liefern. Im besten Fall ist das Erkennen der in "Kaltland" zutage tretenden Missstände jedoch ein erster Schritt in die richtige Richtung.
Zur Autorin: Jasna Zajček, 1973 geboren, ist Journalistin, Autorin und unterrichtet Deutsch als Fremdsprache. Unter anderen schreibt sie für taz, Spiegel online, FAS, Le Monde Diplomatique und Die Welt. Sie studierte Publizistik und Kommunikationswissenschaften, Arabische Hochsprache, Islamwissenschaften und Philosophie. Viele Jahre lebte sie in Damaskus und Beirut, wo sie als Journalistin und Reiseleiterin arbeitete. 2005 erhielt sie den CNN Journalist Award für eine Undercover-Recherche in einem Ausbildungslager der US-Armee. 2007 erschien ihr erstes Buch: "Ramadan Blues" im Herder Verlag. Für die Recherchen zu ihrem zweiten Buch, "Unter Soldatinnen", das 2010 bei Piper erschien, begleitete Zajček ein Jahr lang Marinesoldatinnen bei der der Ausbildung an der Ostsee und bei Auslandseinsätzen. Jasna Zajček lebt in Berlin.
Jasna Zajček
Kaltland. Unter Syrern und Deutschen
Droemer Knaur, erschienen: März 2017
Gebundene Ausgabe, 256 Seiten
ISBN: 978-3-426-27718-8
www.droemer-knaur.de
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