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Beitrag vom 18.06.2017
Valentine Goby - Kinderzimmer
Angelina Boczek
Der im Frühjahr 2017 in deutscher Sprache erschienene Roman der französischen Autorin Valentine Goby, der im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück angesiedelt ist, wird nun nach dem Prix des Libraires im Jahr 2014 mit einem weiteren Literaturpreis ausgezeichnet: Dem "Annalise-Wagner-Preis 2017" der Stiftung in Neubrandenburg.
Die 1974 geborene Schriftstellerin wird nicht zuletzt deshalb gewürdigt, weil sie auf eine literarisch beeindruckende Weise ein Werk schuf, das "die Vergangenheit, die Erinnerung an das Konzentrationslager Ravensbrück poetisch vergegenwärtigt".
In anrührender, aber nicht rührseliger Sprache, in teils drastischer, aber angemessen unsentimentaler Art und Weise versteht es Valentine Goby, die fiktive Geschichte einer jungen Französin zu erzählen, die 1944 schwanger im Konzentrationslager Ravensbrück ankommt. Es geht um die zwanzigjährige Mila, die keine Ahnung davon hat, wie eine Schwangerschaft verläuft, was sich in ihrem Körper abspielt, die unter den brutalen Bedingungen des Lagers ihre Schwangerschaft zu verbergen weiss. Beschimpft ("chneller")!, ("chwainepac")!, beschmutzt, hungrig und durstig, wie alle anderen Deportierten – aber nicht tot, will Mila ihr Kind unbedingt zur Welt bringen und überleben.
Das kann nur gelingen, wenn andere Frauen helfen, wenn Mila sich nicht aufgibt, wenn Mila sich die Zähne putzt, das Kleid säubert, die Läuse in Schach hält und sich beteiligt an der Ausplünderung der Toten: Hier ein Stück Stoff, dort eine Haarnadel oder winziges Stück Brot. Sie erfährt Freundschaft, Hilfe, ja sogar Liebe von den Frauen um sich herum.
Der Kosmos des Konzentrationslagers wird für uns Leserinnen greifbarer, das Unfassbare an Entwürdigung deutlicher, der Terror unmittelbarer durch Schilderungen wie dieser, nachdem Mila es tatsächlich schafft, das Kind "James" auf die Welt zu bringen: "Dann verkündet die Schwester, dass James Milas eine um ein a ergänzte Nummer trägt und ihre Stimme liest die Eintragung im Register vor: ´Langlois, James, politischer Häftling, Franzose, geboren am 29. September 1944, 12 Uhr, Ravensbrück.´ Jetzt hat James eine Nummer. Also gehört er ebenfalls ihnen. Die Schwester bringt Mila zu einem Strohsack, den sie mit einer Kranken teilen soll, einer Frau, die ständig zittert. Dann nimmt die Schwester ihr das Kind wieder weg. Mila fragt, wo sie es hinbringt. ´Ins Kinderzimmer´, antwortet die Schwester. ´Ins Kinderzimmer?´ Ja. Es gibt ein Kinderzimmer."
Mit jener Häftlings-Kinderschwester, inzwischen 93 Jahre alt, konnte Valentine Goby während der Recherchen zu ihrem Buch sprechen: Marie-José Chombart de Lauwe erlebte Ravensbrück. Der ehemaligen Säuglingsschwester des "Kinderzimmers", die 1943 wegen ihrer Tätigkeit für die Résistance nach Ravensbrück deportiert wurde, gelang es durch ihren mutigen Einsatz, einige wenige Frauen und Kinder zu retten. 2012 wurde sie für ihr lebenslanges Eintreten für Freiheit, Menschen- und Bürgerrechte mit dem höchsten Orden der französischen Ehrenlegion ausgezeichnet. Ihre Memoiren erschienen 2015 unter dem Titel Résister toujours.
Im Buch spielt sie im Verlauf der Handlung eine wichtige Rolle, weil das Baby James an Unterernährung und Erfrierung stirbt. Umgehend übergibt die Kinderschwester Mila ein anderes Kind, "Sascha", den Jungen einer soeben gestorbenen Russin, die im Leichenkeller zusammen mit James auf einem Haufen liegt: "James und die Russin Nina, friedlich inmitten der Masse der Leichen. Weiß, fast bläulich wie bei El Greco, wie die Pietà , der Körper Christi nach der Kreuzabnahme, irgendwo hat sie das Bild gesehen. Sie sieht ein Gemälde vor sich. Das ist nicht wirklich."
Das Kind "Sascha-James" wird nun von vielen Frauen umsorgt, es gelingt, trotz des harten Winters und der chaotischen Zustände im Lager, trotz der Deportationen in andere Lager, der Epedemien, das Kind am Leben zu erhalten. Ein Zeugnis von "Mut und Widerstand gegen Terror und Gewalt, von Solidarität und Freundschaft, von Menschlichkeit und Menschenwürde unter menschenverachtenden Bedingungen", lesbar als ein Hoffnungszeichen und als Aufforderung, unser eigenes Verständnis von Menschenrecht und Menschenwürde immer neu zu hinterfragen.
Die Geschichte von Mila und den anderen Frauen aus ganz Europa, spielt in Ravensbrück, nicht zuletzt "in Sichtnähe der Einwohner der damals mecklenburgischen Stadt Fürstenberg", in der Nähe des Schwedtsees, den Mila aus der Ferne sehen kann. Was heißt, dass sich die gefangenen Frauen, die SS-Leute, die Dorf- und StadtbewohnerInnen in derselben Welt befanden. Das wird zum Schluss des Buches nochmals deutlich, weil Mila und weitere vier Frauen mit ihren Kindern vor der Auflösung des Lagers zu einem "Aussenkommando" gebracht werden können. Es handelt sich um einen Bauernhof, auf dem das Leben einigermassen normal zu sein scheint: "Wahrhaftig, es ist kaum zu glauben, dieses Zimmer, die Betten, die Decken, der Ofen, die unverschlossene Tür, der Hof, offen zum Weg, und der Weg offen zu den Feldern, und die Felder offen nach Deutschland, ins Weiß."
Auch die Erinnerung an diesen besonderen geographischen Ort und seine Umgebung war der Autorin ein Anliegen, Ortsnamen spielen im Buch eine Rolle. Im Jahre 1991 konnten wir der Presse entnehmen, dass eine Einzelhandelskette die Eröffnung eines Supermarktes direkt vor dem Gelände des ehemaligen Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück plante. Nach ablehnenden Reaktionen aus der ganzen Welt wurde der Supermarkt nie eröffnet und das bereits fertiggestellte Gebäude vom Land Brandenburg gekauft. Es wurde 2011 abgerissen, der Parkplatz eingeebnet, um der Gedenkstätte einen würdigen Zugangsbereich zu bieten.
AVIVA-Tipp: Sich erinnern lassen an das, was in diesem Land geschehen ist. Aufgeschrieben und verdichtet in einem Roman, der uns zeigt, dass die "Absolutheit des Vergessens" aufgehoben werden kann und dass Geschichte und Gegenwart zusammenhängen.
Zur Autorin: Valentine Goby, geboren 1974, ist seit 15 Jahren als freie Autorin für verschiedene französische Verlage tätig und hat zahlreiche Romane und Erzählungen veröffentlicht. In ihren Romanen beschäftigt sie sich häufig mit historischen Themen und verwebt gekonnt Geschichte und Gegenwart.
2014 erhielt sie für "Kinderzimmer" den renommierten "Prix des Libraires" sowie den prix Gabrielle-d´Estrées". Gewidmet ist "Kinderzimmer" den Kindern und der Säuglingsschwester von Ravensbrück, Marie-José Chombart de Lauwe – unermüdliche Kämpferin für die Freiheit und gegen das Vergessen.
2017 wird sie mit dem "Annalise-Wagner-Preis 2017" der Annalise-Wagner-Stiftung in Neubrandenburg ausgezeichnet. Die öffentliche Preisverleihung findet am 23. Juni 2017 in der Stadt Neubrandenburg statt.
Mehr Informationen unter: www.annalise-wagner-stiftung.de
Valentine Goby lebt in der Nähe von Paris.
Valentine Goby
Kinderzimmer
Originaltitel: Kinderzimmer
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz.
Verlag ebersbach & simon, erschienen am 25. Februar 2017
Gebunden mit Schutzumschlag. 236 Seiten
Euro 19,95
Mehr Informationen unter: www.ebersbach-simon.de
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