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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 17.07.2017


Marica Bodrožić - Das Wasser unserer Träume
Yvonne de Andrés

Die mehrfach ausgezeichnete Schriftstellerin ("Kirschholz und alte Gefühle", 2012, und "Das Gedächtnis der Libellen", 2010) erhielt 2017 den Preis der Ricarda Huch Poetikdozentur für Gender. In ihrem 2016 erschienenen Roman "Das Wasser unserer Träume" beleuchtet die im ehemaligen Jugoslawien geborene und in Berlin lebende Autorin das Innenleben eines Komapatienten aus einer literarischen Perspektive: eine philosophisch-poetische Umkreisung des menschlichen Bewusstseins.




"Noch bin ich nicht übergesetzt. Es fehlt mir an Kraft. Die Rückschöpfung von Wort und Klang ist unterbrochen worden. Ich kann nichts allein machen. Nicht einmal einen winzigen kleinen Buchstaben aussprechen. Selbst ein Kommaist stärker als ich und leuchtet in sonderbarer Gnade."

Der namenlose Ich-Erzähler liegt in einem bescheidenen Zimmer im Krankenhaus. Seit einem Jahr befindet er sich bereits im Koma. "Ich kann meine Augen nicht aufmachen. Trotzdem kann ich die Farbe sehen." Es ist der Versuch einer Rückkehr in die Welt. Das Üben des Erwachens. Reglos liegt er da, all seiner Koordinaten beraubt. Kann nicht handeln. Es besteht kein Kontakt mit der Außenwelt. Reich an Bildern und sehr poetisch beschreibt die Autorin dieses innere Exil.

Erst als der Mann sich auf die Reise begibt und sich fragt: Wer bin ich? beginnt der Klärungsprozess. Er verliert sein Ich und begibt sich zur transzendenten Mitte, um sein Selbst zu entdecken. Um Teil des Ganzen zu werden. Dabei stellt er fest, dass er nicht alleine lebt, lernt oder liebt. Sein Sensorium verbindet sich in einer Tiefendimension mit anderen Menschen. Schritt für Schritt gewinnt er die Sprache und die Erinnerung wieder. Er beginnt seine Situation zu erspüren, dies ist der Moment des Neubeginns. Sehr langsam kehrt der namenlose Mann ins Leben zurück. Sehr anrührend sind die Passagen, in denen ein Hauch von Bewegung beschrieben wird. Der Mann beginnt, seine Wimpern zu bewegen, oder als Reaktion auf den Weggang der Schwester rollen ihm Tränen die Wange herunter.

Die Beschreibung der kleinen Schritte der Körperempfindungen gehört zu den anrührendsten Passagen des Romans. "Meine Tränen weinen um sie, während sie mir die letzten Zeilen vorliest: Lerne zu leben. Im Mosaik. Nimm ein den Platz."

AVIVA-Tipp: Mit "Das Wasser unserer Träume" ist nach "Kirschholz und alte Gefühle" (2012) und "Das Gedächtnis der Libellen", (2010) die Trilogie über die Erinnerung und das Vergessen nun abgeschlossen. Der philosophische Roman "Das Wasser unserer Träume" geht der Frage nach: Wer sind wir, und was macht uns als Mensch aus? Wie Marica Bodrožić uns an dieser Entwicklung teilhaben lässt, ist sprachlich brillant. Ein sehr besonderes Buch.

Zur Autorin: Marica Bodrožić, geboren 1973 in Svib, SR Kroatien. 1983 siedelte sie mit ihrer Familie nach Hessen. Dort erlernte sie die deutsche Sprache. Sie studierte Kulturanthropologie, Psychoanalyse und Slawistik. Als Gastprofessorin lehrte sie u.a. am Dartmouth College in den USA deutsche Lyrik des 20. Jahrhunderts und Gegenwartslyrik. Regelmäßig gibt sie an Schulen und Universitäten oder im Auftrag des Goethe-Instituts Creative Writing-Kurse. Bodrožić arbeitet außerdem als literarische Übersetzerin aus dem Englischen und dem Kroatischen. Sie hat Romane, Lyrik, Essays, Features und Kritiken geschrieben.
Für "Sterne erben, Sterne färben. Meine Ankunft in Wörtern", Autobiografische Prosa (2007) erhielt sie den "Initiativpreis Deutsche Sprache". In diesem Buch definiert sie ihr poetisches und poetologisches Verhältnis zu ihrer, wie sie es nennt, zweiten Muttersprache, die auch die Sprache ihrer Literatur geworden ist. Ihre bekanntesten Bücher: "Das Auge hinter dem Auge" (2015), "Mein weißer Frieden" (2014), "Kirschholz und alte Gefühle" (2012), "Quittenstunden", Gedichte (2011), "Das Gedächtnis der Libellen", Roman (2010), "Sterne erben, Sterne färben. Meine Ankunft in Wörtern", Autobiografische Prosa (2007) und "Der Spieler der inneren Stunde", Roman (2005). Ihre Wiesbadener Poetikvorlesungen von 2014 erschienen 2015 unter dem Titel "Das Auge hinter dem Auge" und beschäftigten sich mit Protagonistinnen weiblichen Schreibens wie Marguerite Duras, Christine Lavant oder Nathalie Sarraute.
Für ihre Bücher erhielt Marica Bodrožić zahlreiche Preise und Stipendien, darunter den Förderpreis der Akademie der Künste Berlin, den Kulturpreis Deutsche Sprache, den Literaturpreis der Europäischen Union und den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2015. 2016 Stadtschreiberin in Turku, Finnland. Sie erhielt 2017 für ihr bisheriges Romanwerk den Preis der Ricarda Huch Poetikdozentur für Gender in der literarischen Welt.
Marica Bodrožić unterrichtet seit über zehn Jahren Schreib- und Poesiewerkstätten an Schulen, Universitäten und auf Einladung von Goethe-Instituten. Sie lebt als freie Schriftstellerin Berlin. Sie ist Mitglied im P.E.N.-Club Liechtenstein.
Mehr Infos zu Marica Bodrožić unter: www.marica-bodrozic.de


Marica Bodrožić,
Das Wasser unserer Träume

Roman
Luchterhand Literaturverlag, erschienen 12.09.2016
Gebunden, mit Schutzumschlag, 224 Seiten
22,00 Euro [D]
ISBN: 978-3-630-87396-1
Auch als E-Book erhältlich
Mehr Infos zum Buch unter: www.randomhouse.de

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Literatur

Beitrag vom 17.07.2017

Yvonne de Andrés