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Beitrag vom 03.08.2017
Claudia Breitsprecher - Hinter dem Schein die Wahrheit
Ahima Beerlage
In ihrem dritten Roman schaut die Berliner Autorin in die Abgründe dörflicher Moral, die über Generationen Freundschaften belastet und ein Coming-Out zu einer schmerzhaften Erfahrung macht.
Schreiben ist wie Schuhe machen
Der wohl größte Irrtum unter Lesenden ist, dass das Schreiben wie eine mystische Begabung funktioniert. Die Wahrheit ist, dass Talent nur die Grundlage ist. Bis ein Text, ein Roman gelingt, ist es oft ein langer Weg – und das Ergebnis eines Lernprozesses. Deshalb ist es immer wieder aufregend, den Werdegang einer Autorin zu begleiten. Claudia Breitsprecher ist eine solche Autorin, deren Arbeiten ich über Jahre begleiten konnte. Seit den 90er Jahren hat sie Kurzprosa veröffentlicht. Dem ersten Buch 2002 über Mutter-Tochter-Beziehungen: ´Das hab ich von dir´ ließ sie gleich ein weiteres Sachbuch folgen: ´Bringen Sie doch Ihre Freundin mit! Gespräche mit lesbischen Lehrerinnen´. Ihr Debutroman Vor dem Morgen liegt die Nacht folgte 2005. Die lesbische Liebesgeschichte zwischen Ost und West, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, ist spannend zu lesen. Dennoch ist auffällig, wie intensiv sie Adjektive einsetzt, als traue sie ihren Bildern noch nicht vollständig. Aber schon in diesem ersten Roman ist ihr Talent sichtbar, Lesende in ihren Bann zu ziehen. Mit ihrem zweiten Roman 2011 nahm sie die Lesenden mit hinter die Kulissen der deutschen Politik. Ihre Protagonistin ist nach einem Attentat auf sie unfreiwillig in einer Auszeit, die dem Roman auch ihren Titel gibt. Dabei stößt die Hauptfigur, die sich für tolerant und progressiv hält und die sich in das Ferienhaus einer politischen Kollegin zurückgezogen hat, im Alltag auf ihre eigenen Vorurteile. Auch hier ist Spannung garantiert. Dennoch ist zu spüren, dass die Autorin sich tief in die Materie politischer Ränke hineingearbeitet hat. Und so gibt es Passagen, die in ihren Detailbeschreibungen gewisse Längen aufzuweisen hat. In ihrem neuesten Roman Hinter dem Schein die Wahrheit ist von diesen kleinen Anfangsfehlern nichts mehr zu merken.
Liebe braucht Respekt
Jakob ist schwul und hat es noch niemandem gesagt – nicht seiner zwanghaften Mutter Karin, nicht seinem weit von der Familie lebenden Vater Pavel, nicht seiner lesbischen Patentante Annette und auch nicht dem gutmütigen Holger, dem guten Freund seiner Mutter Karin. Seine Angst, sich zu outen, wird von seiner Angst vor seinem tyrannischen Opa und seiner strengen Oma überlagert. Auch weiß er nicht, wie sein Outing in dem kleinen Dorf ankommen würde, in dem er mit seiner Mutter lebt. Seine heimliche Liebe ist der Torwart Philipp, ein rücksichtloser Alpha-Junge. Als dieser mitbekommt, dass der nerdige Jakob auf ihn steht, lockt er ihn mit zwei Kumpel in die Falle und verprügelt ihn. Schwer verletzt an Körper und Seele verkriecht sich Jakob. Während seine Mutter am Anfang noch versucht, sein Verschwinden vor der Dorfgemeinschaft geheim zu halten, um ihr sorgfältig gepflegtes Bild von der perfekten Mutter und Ehefrau aufrecht zu erhalten, wird sie zunehmend panischer und ruft ihre beiden Freund_innen zur Hilfe: Holger, der einst Priester werden wollte, nach schlimmen Wahrheiten aber aus der Bahn flog, auf der Straße landete und jetzt den belächelten Platzwart auf dem Sportplatz gibt, und Annette, die in der Schulzeit in Karin heimlich verliebt war und nach ihrem Outing mit wehenden Fahnen das Dorf verlassen hat. Während die Suche nach Jakob immer bedrohlichere Indizien dafür liefert, dass ihm etwas Schlimmes passiert ist und Jakob immer heftiger unter seinen Verletzungen leidet, wird im Rückblick erzählt, was dem eingeschworenen Freund_innen-Trio Karin, Holger und Annette in der Vergangenheit in diesem Dorf passiert ist. Sich ihren Wahrheiten zu stellen, scheint für alle Beteiligten der Preis dafür zu sein, Jakob wiederfinden zu können.
Wahrheit ist der Schlüssel
Ein Familiennarrativ beeinflusst die nächste Generation. Da hilft kein Schweigen und keine Verdrängung. Die Quintessenz des Romans kommt aber nicht mit erhobenem Zeigefinger daher. Dicht werden Gegenwart und Vergangenheit miteinander verflochten. Dabei gelingt es Claudia Breitsprecher gekonnt, Rückblenden und Gegenwart so miteinander zu verknüpfen, dass die verschiedenen Elemente einander ergänzen und erklären, ohne die Spannung für die Leser_innen auszubremsen. Mit knapper und prägnanter Sprache umschifft sie dabei jede Überzeichnung tragischer Momente. Im Gegenteil. Die sachliche Schilderung quälender Momente lähmt nicht durch Überfrachtung. Die Figuren sind dabei bis auf den gehässigen Patriarchen und Vater von Karin mehrdimensional gezeichnet. Aber einen echten Widerling kann die Leser_in ja auch ertragen.
AVIVA-Tipp: Claudia Breitsprechers dritter Roman ist nicht nur spannende Urlaubslektüre. Er ist ein sorgfältig ausgestaltetes Sittenbild einer überholten Dorfmoral, die über Generationen ihre Opfer fordert. Dabei wird der homophobe Gewaltausbruch gegenüber dem heimlich schwulen Schüler Jakob zur Stunde der Wahrheit für seine Eltern, deren Freund_innen und Großeltern. Nicht unbedingt ein Buch für Lesben, die selbst Verletzungen bei ihrem Coming-out auf einem Dorf erlebt haben, aber mit Sicherheit ein erhellendes Buch für diejenigen, die glauben, durch die "Ehe für Alle" wäre Homosexualität bis in jeden Winkel des Landes zur Selbstverständlichkeit geworden. Der Roman ist in jedem Fall eine spannende und gut geschriebene Lektüre.
Zur Autorin: Claudia Breitsprecher ist 1964 in Dülmen/NRW geboren und aufgewachsen in Berlin, wo sie auch heute mit ihrer Frau lebt. Studium der Soziologie, Psychologie und Politik an der Freien Universität Berlin. 1991 Abschluss als Diplom-Soziologin, anschließend berufliche Tätigkeiten im Bildungs- und Sozialbereich. Nach ersten Kurzprosa-Veröffentlichungen in Anthologien Ende der 90er Jahre schreibt sie heute sowohl literarische als auch Sachtexte. 2002 erfolgte ihr Sachbuchdebüt mit einem Band über Mutter-Tochter-Beziehungen: "Das hab ich von dir", gefolgt von "Bringen Sie doch Ihre Freundin mit! Gespräche mit lesbischen Lehrerinnen". 2005 erschien ihr erster Roman "Vor dem Morgen liegt die Nacht" der zweite schloss sich 2011 mit "Auszeit" an. Für diesen wurde sie 2012 von der Autorinnen-Vereinigung e.V. als Autorin des Jahres ausgezeichnet. Im Frühjahr 2017 erschien Claudia Breitsprechers dritter Roman unter dem Titel "Hinter dem Schein die Wahrheit". (Quelle: Verlag Krug & Schadenberg)
Claudia Breitsprecher
Hinter dem Schein die Wahrheit
Krug & Schadenberg Verlag, Deutsche Erstausgabe 1.3.2017
ISBN: 978-3959170079
Taschenbuch, 304 Seiten
16.90 Euro
www.krugschadenberg.de
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Eine lesbische Liebesgeschichte zwischen Ost und West, zwischen Generationen, zwischen Unabhängigkeit und Verbundenheit.(2005)
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