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Beitrag vom 23.08.2017
Marie Luise Lehner - Fliegenpilze aus Kork
Tina Schreck
Der Debütroman der österreichischen Autorin und Kurzfilmemacherin ("Kaugummizigaretten") beschreibt die unkonventionelle Beziehung der namenlosen Protagonistin zu ihrem Vater. Deren uneingeschränkte Bewunderung ihm gegenüber schlägt im Laufe der Jahre mehr und mehr in Unverständnis und Scham um.
Die Eltern kann mensch sich nicht aussuchen. Liebevoll, streng, peinlich oder gar gewalttätig, sie können alles sein. Dennoch scheint aus Kindersicht die Verbindung zur Mutter und zum Vater in den meisten Fällen etwas Besonderes zu sein. Das Kind kennt es ja nicht anders und besitzt etwas, was den meisten Erwachsenen im Laufe des Älterwerdens verlorengeht: die Gabe, bedingungslos zu lieben. In ihrem Debütroman thematisiert die 1995 geborene Autorin ein Tochter-Vater-Verhältnis, indem sie einen intimen Einblick in deren Alltag gibt, der sich fernab der gesellschaftlich festgesetzten Normen bewegt. Inspirieren ließ sich die Schriftstellerin dabei von vielen persönlichen Gesprächen über Kindheitserinnerungen und diverse Familienkonstellationen, wie sie in einem Interview auf fixpoetry.com verrät.
21 Jahre
Die tagebuchartigen Einträge der anonymen Ich-Erzählerin beginnen mit ihrer Geburt. Erinnerungsfetzen, in denen sie die ersten Jahre ihres Lebens beschreibt. Der Tod des Großvaters, die Trennung der Eltern - einschneidende Erlebnisse, die in wenigen, kurzen Sätzen wie beiläufig erwähnt werden. Nach und nach werden die Aufzeichnungen, die fast ausschließlich vom Vater und ihrer gemeinsame Zeit mit ihm handeln, ein wenig ausführlicher. Die knappen Episoden, die sich jedoch über den langen Zeitraum von 21 Jahren erstrecken, erzählen vom Alltag mit dem liebevollen, aber auch oft gedankenverlorenen Vater, ohne zu psychologisieren oder über ihn zu werten. Klar und nüchtern, in einfacher, fast abgehackter Sprache, schildert sie mit der rührenden Naivität eines Kindes ihre Beobachtungen.
Schmarotzer oder Überlebenskünstler
Meistens ist der Vater arbeitslos. Manchmal ist er aber auch Bildhauer, Sozialarbeiter oder Hausmeister. Wird das Geld mal wieder knapp, greift er auch gerne zu unkonventionellen Mitteln. Dann gehen sie zum Beispiel gemeinsam auf den Müllplatz, um Elektrogeräte zu stehlen. Doch auch wenn er seine eigenen Bedürfnisse auf das Nötigste reduziert, ist es ihm wichtig, dass seine Tochter regelmäßig etwas zu essen bekommt. Außerdem führt er sie oft ins Theater und in die Oper aus oder geht mit ihr ins Schwimmbad. Er kennt viele Tricks, um teure Eintrittspreise zu umgehen. Dafür raucht er ständig vor ihr in der viel zu kleinen Wohnung, zwingt sie, ihn in die Kirche zu begleiten und schon im Alter von fünf Jahren muss sie ihm auf Baustellen und bei anderen handwerklichen Arbeiten helfen. Schnell zeichnet sich so ein komplexes Bild des Vaters, das zwischen Fürsorge und grober Fahrlässigkeit schwankt.
"Immer haben wir ein zu kleines Handtuch"
Je älter die Protagonistin wird, desto komplizierter die Beziehung. Der ständige Geldmangel und die damit verbundene, beengte Wohnsituation wird zunehmend zum Problem für das junge Mädchen. Plötzlich fühlt es sich komisch an, mit dem Vater ein Bett zu teilen oder sich vor seinen Augen auszuziehen. Dieser respektiert die Grenzen seiner Tochter dabei nur bedingt. "Dein erstes Nacktfoto", witzelt er, als sie unbekleidet im Wohnzimmer steht und er spontan auf den Auslöser drückt. Verschämt presst sie sich das erstbeste Stück Stoff vor die Brust, bevor es blitzt. Zufall, Leichtfertigkeit oder Absicht – die Antwort darauf bleibt die Autorin leider schuldig. Vage Anspielungen wie "Nachts schneit es über meinem Bett. Ich träume tief", werden von Marie Luise Lehner unvermittelt und ohne weitere Erklärung in den Raum gestellt.
Ablösungsprozess
Mit der Pubertät kommt schließlich die Erkenntnis und die Ich-Erzählerin sieht ihren Vater nun mit anderen Augen. "Ich entscheide, dass ich jetzt mehr weiß als er", stellt die nun vierzehnjährige Tochter fest. Die einstige Bewunderung wird abgelöst von Schamgefühlen und Verständnislosigkeit. Er kann nicht rechtschreiben, er behauptet Dinge, die nicht wahr sind, er lacht an den falschen Stellen und missversteht Bücher und Theaterstücke. Seine Kleidung, seine Unwissenheit, sein Egoismus – alles ist ihr peinlich. Was früher noch aufregend war, ist auf einmal unangenehm.
Glaubhafte Stimme
Die innere Zerrissenheit, welche die Tochter gegenüber ihrem Vater empfindet, zeichnet die Autorin für die Leser_innen akribisch nach. Sie liebt ihn, sieht ihn aber immer mehr als das, was er wirklich ist – ein unbedachter, selbstbezogener Chaot, der sein Leben nicht auf die Reihe bekommt. Die eindringlichen, wenn auch teils unvermittelten Momentaufnahmen vergessen neben Wut, Scham und Unverständnis trotzdem nie die positiven Seiten dieser vielschichtigen Tochter-Vater-Beziehung.
AVIVA-Fazit: "Fliegenpilze aus Kork" klagt und wertet nicht - es erzählt. Die bruchstückhaften Schilderungen wirken einerseits authentisch, lassen aber andererseits (zu) viele Fragen offen. Anstatt Antworten zu geben, verstrickt sich die Autorin in teils irrelevante Nebenstränge, was den Fluss der Geschichte streckenweise unnötig verlangsamt.
Zur Autorin: Marie Luise Lehner wurde 1995 geboren, lebt in Wien und Linz, studiert Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst sowie Drehbuch an der Filmakademie Wien. Sie schreibt Prosa, Theater- und Hörstücke und hatte ein Jahr eine Kolumne in den Oberösterreichischen Nachrichten. Ihre Erzählungen wurden in Anthologien und in Literaturzeitschriften, wie der "Kolik, Zeitschrift für Literatur" oder "Facetten – Literarisches Jahrbuch der Stadt Linz" veröffentlicht. Marie Luise Lehner ist Preisträgerin des Kolikpreises und des Preises der Oberösterreichischen Nachrichten. Für ihr Projekt "Womit wir schlafen, oder wir ficken einen Staat", das als Gewinnerstück des Public Workshop von Bayern 2 am 27. Januar 2017 ausgezeichnet wurde, hat sie im Netz Kontakt zu jungen lesbischen Frauen in Bangladesch und im Iran aufgenommen, denen wegen ihrer sexuellen Orientierung im schlimmsten Fall die Todesstrafe droht. Das Thema Homosexualität fließt auch in ihrem Debütroman "Fliegenpilze aus Kork" am Rande mit ein, wird allerdings leider nicht weiter ausgeführt.
Neben dem Hörspiel und der Schriftstellerei hat sie auch bereits zwei Kurzfilme realisiert: "Nichts" (2015), welcher auf den Video- und Filmtagen in Wien, dem "Little Elephant Festival" in Maribor, dem "Phoenix Film Festival" in Melbourne und dem "Crossing Europe" in Linz gezeigt wurde und "Kaugummizigaretten" (2016), der ebenfalls auf dem "Crossing Europe" in Linz zu sehen war.
Marie Luise Lehner
Fliegenpilze aus Kork
Kremayr & Scheriau, erschienen Februar 2017
Hardcover mit Schutzumschlag, 192 Seiten
ISBN: 978-3-218-01067-2
19,90 Euro
www.kremayr-scheriau.at
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