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Beitrag vom 09.10.2017
Stephanie Kuhnen (Hrsg.) - Lesben raus! Für mehr lesbische Sichtbarkeit
Bärbel Gerdes
Lesben raus! Kein AfD-Slogan, sondern ein Aufruf zur Sichtbarkeit der Lesben und des Lesbischen in unserer Gesellschaft. Spannende Aufsätze aus allen Lebensbereichen bieten anregenden Diskussionsstoff.
Das gab es mal: die endlosen Debatten darüber, ob das Zentrum, in dem sich Feministinnen trafen, nun "Frauenzentrum" oder "Lesbenzentrum" oder "Frauen- und Lesbenzentrum" oder "Frauenlesbenzentrum" heißen sollte. Auch wenn uns das holperige "Frauen und Lesben" die Luft scharf einziehen ließ – es war die Möglichkeit, uns sichtbar zu machen, deutlich zu machen, dass es sich eben nicht lediglich um Frauenräume handelte, sondern um Orte, an denen sich Frauen liebende Frauen aufhielten. Wir wollten gesehen und wahrgenommen werden!
In dem von der Journalistin Stephanie Kuhnen herausgegebenen Band, der den Untertitel Für mehr lesbische Sichtbarkeit trägt, untersuchen 28 Autor_innen dieses Thema aus sehr unterschiedlichen, oft überraschenden Perspektiven.
Denn längst drohen Lesben unsichtbar oder subsumiert zu werden unter all den Buchstaben, deren Reihung immer länger zu werden scheint: LSBTTIQ*, so heißt es zu Beginn des Buches im Editorial der Herausgeberin – eine Abkürzung, von der angenommen wird, die oder der geneigte Leser_in wisse schon Bescheid.
Doch es ist nicht nur das Verschwinden der Lesbe hinter diesem Buchstabenwust, die politisch-korrekt stets mit einem Sternchen zu versehen ist – auch der "queer"-Begriff inkludiert die Lesbe und sorgt gleichzeitig für ihre Unsichtbarmachung. "Wenn alle ´Queers´ sind, wie kann dann die strukturelle Benachteiligung von Lesben, einschließlich homosexueller bzw. frauenliebender Frauen … bekämpft werden?" fragt Kuhnen – und hier ist die Rezensentin verwirrt, da sie immer dachte, Lesben seien homosexuelle frauenliebende Frauen.
In den 1990er Jahren gingen Lesben Bündnisse mit Schwulen ein. Es entstanden gemeinsame Projekte, Netzwerke, Initiativen, die finanziell gefördert wurden. Birgit Bosold weist in ihrem Beitrag nach, dass allein 2016 in Berlin ca. 3,7 Millionen Euro an Projekte der Berliner LGBTIQ-Community gingen – 46% davon an zwei Träger, die sich vor allem um schwule Männer kümmern.
Oft werden Lesben übergangen (oder lassen sie es zu?) und sind unterrepräsentiert in Entscheidungsgremien. Noch immer lassen sich Denkmodelle wie jene von Ti-Grace Atkinson oder Monique Wittig anwenden, die Lesben radikal in den Vordergrund stellten und Lesben auch nicht unter "Frauen" oder "Homosexuelle" subsumieren wollten. "Die breite Spur von Misogynie und Maskulinismus, die sich in der schwulen Kultur bis heute findet, spricht dafür, dass schwule Identitäten eher nicht dem Kampf gegen das Privileg, ein Mann zu sein, abgetrotzt wurden und werden."
Umso wichtiger, dass Lesben aufschreien, rauskommen, sichtbar(er) werden. Wo Lesben überall zu finden sind, welche Aspekte, Themen, Freuden und Herausforderungen sich ihnen stellen, zeigt dieser Band wunderbar und breitgefächert: es geht um Lesben im Alter, die Sehnsucht nach einer Gemeinschaft haben, die "Kürzel versteh[t] wie LFT oder CSD, die wissen, was WenDo ist und wo Femo liegt", die in der Altersarbeit jedoch nicht vorkommen, weil die Wahrnehmungsantennen auf Schwule gerichtet sind, es geht um lesbische Jugendliche, die in den Medien keine wirksamen Vorbilder finden können, da dort die offenen Lesben alle über 40 sind. Traude Bührmann berichtet vom ersten Lesbenfriedhof in Berlin, einem Ort, "um zukünftig mit denjenigen zu ruhen, die wir geliebt und gekannt haben". Das Vergessen der Lesben in der Pflege wird ebenso thematisiert wie Butches, wie der lesbische Blick, der die Welt ganz anders wahrnimmt, wie lesbische Geflüchtete und wie ein Transmann, der nun lesbisch ist - oder nicht(?).
Doris Hermanns spannt einen weiten Bogen über FrauenLesbenverlage und -buchhandlungen seit den 1970ern und stellt die durchaus besorgniserregende Frage, ob es ein Leben nach dem Frauenbuchladen überhaupt geben kann, während Manuela Kay sich gewohnt provokativ damit befasst, dass Lesben durch Bravheit und Prüderie - und die verortet Kay seltsamerweise nur in der Lebenspartner_innenschaft bzw. Ehe für alle - unsichtbar werden und damit auch die Sexualität lesbischer Frauen: "Wir sind lieb, wir ficken nicht!".
Stephanie Kuhnen hat ein Buch herausgeben, das – so wünsche ich es ihm – zu vielen Diskussionen führen wird, das die Frage nach dem, was eine Lesbe ausmacht und wie und wo sie sichtbar sein kann, wieder in den Fokus rückt.
Doch werden Lesben nun unsichtbar durch LSBTTIQ*? Das wird durchaus kontrovers beantwortet. Zwei Autorinnen sehen diese Buchstabensuppe eher als Garantin für die Sichtbarkeit von Vielfalt und wagen zu bezweifeln, ob Lesben in Bündnissen wie "Regenbogen-Netzwerk" oder "Pink-Netzwerk" sichtbarer wären.
Stephanie Kuhnen möchte sich nicht abspeisen lassen mit einem L, das wie ein Appetithappen dem Buchstabensalat vorangestellt wird, und moniert, dass eine Kultur der Wertschätzung für Lesben seitens der Community nicht entwickelt wurde. Dies sieht sie als Zeichen vorherrschenden Sexismusses. "Sie sind da, sie werden übersehen", schreibt sie.
Das sollten wir ändern!
AVIVA-Tipp: Stephanie Kuhnen hat mit Lesben raus! eine Diskussionsgrundlage geschaffen, die Stoff bietet, sich für mehr Sichtbarkeit zu engagieren. Absoluter Lesben-Lesetipp!
Zur Herausgeberin: Stephanie Kuhnen Jahrgang 1969, lebt in Berlin und kämpfte dort in der autonomen Lesbenbewegung. Sie studierte in Göttingen Anglistik, Kunstgeschichte und Publizistik. 2001 gründete sie die erotische Buchhandlung "Lustwandel", die sie bis 2008 betrieb. Seit 2010 widmet sie sich ganz dem Schreiben und veröffentlicht bei queer.de, der Siegessäule und im L-Mag, deren Chefredakteurin sie von 2012-2014 war. Veröffentlichungen als Herausgeberin: Butch/Femme. Eine erotische Kultur (1997), Rettet die Delphine, Bisse und Küsse. Bd. I (Hsg. mit Sophie Hack, 2001), Lesben raus! – Für mehr lesbische Sichtbarkeit (2017).
Mit Beiträgen von: Christoph R. Alms, Gwendolin Altenhöfer, Monika Barz, Gabriele Bischoff, Birgit Bosold, Maria Braig, Carolina Brauckmann, Maria Bühner, Traude Bührmann, Lovis Cassaris, Stephanie Gerlach, Max Helmich, Doris Hermanns, Angela Jäger, Manuela Kay, Ria Klug, Juliane Kronen, Stephanie Kuhnen, Mariella Müller, Eva von Redecker, Babette Reicherdt, Jenny Renner, Corinne Rufli, Lili Sommerfeld, Gabi Stummer, Pia Thilmann, Simone Tichter und Judith Völkel.
Stephanie Kuhnen (Hrsg.)
Lesben raus! Für mehr lesbische Sichtbarkeit
Querverlag, erschienen im September 2017
Gebunden, 293 Seiten
ISBN 978-3-89656-257-9
16.90 Euro
www.querverlag.de
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