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Beitrag vom 13.10.2017
Astrid Lindgren und Louise Hartung. Ich habe auch gelebt! Briefe einer Freundschaft. Herausgegeben von Jens Andersen und Jette Glargaar
Doris Hermanns
Bei Astrid Lindgren fallen uns allen gleich zahlreiche Kindergeschichten ein, mit denen wir aufgewachsen sind. In diesem Briefband lernen wir jedoch eine neue Seite der Autorin kennen – die der erwachsenen Freundin. Am 14. November 2017 hätte sie ihren 110. Geburtstag gefeiert. In ihrem Nachwort würdigt Antje Rávic Strubel besonders auch die große Entdeckung von Louise Hartung.
Ein Briefband, der mir sicher entgangen wäre, wenn nicht Antje Rávic Strubel, die das Nachwort dazu verfasst hat, bei einer Veranstaltung auf sein Erscheinen hingewiesen hätte. Sicher, Astrid Lindgren war mir natürlich ein Begriff und ich habe einige ihrer Bücher gelesen. Aber als Person hätte sie mich erst einmal nicht genügend interessiert, um zu diesem Briefwechsel zu greifen.
Es war der Hinweis auf Louise Hartung, deren Verliebtheit in Lindgren und der Berlin-der-Nachkriegszeit-Bezug, die mich neugierig gemacht haben. Und – wie Rávic Strubel schreibt: "Die große Entdeckung dieses außergewöhnlichen Briefwechsels ist Louise Hartung." Hartung, vor dem Zweiten Weltkrieg eine gefeierte Sängerin, die u.a. an der Uraufführung von Brechts Dreigroschenoper mitwirkte, wurde während des Faschismus aus der Berliner Theaterkammer ausgeschlossen und hatte mehrere Jahre Auftrittsverbot. Später wurde sie gezwungen, an Wehrmachtskonzerten mitzuwirken, versteckte jedoch in Berlin Jüdinnen, die von der Deportation durch die Nazis bedroht waren. Nach Kriegsende arbeitete sie beim Hauptjugendamt der Stadt Berlin, wo sie vor allem für den Bereich der Leseförderung zuständig war. Ihre Aufgabe bestand darin, "die Bedingungen für eine demokratische Entwicklung in Deutschland zu schaffen". Vor allem für die Jugendlichen, die während des Nationalsozialismus aufgewachsen waren, stand jetzt vor allem die Überwindung von Nationalismus und Antisemitismus in der Erziehung im Vordergrund, so sollte sie "gute, gesunde Literatur zwischen den Kindern und Jugendlichen ´pflanzen´".
Hartung schrieb häufig über die von ihr empfohlenen Bücher. Und seit sie Pippi Langstrumpf gelesen hatte, das sie für das beste Buch der Welt hielt, stellte sie häufig Bücher der schwedischen Kinderbuchautorin Astrid Lindgren vor, deren Bücher seit 1949 auch in Deutschland veröffentlicht wurden, und setzte sich unermüdlich für deren Werk ein.
1953 lud Hartung die Autorin, die zu dieser Zeit noch am Anfang ihrer schriftstellerischen Karriere stand, nach Berlin ein, wo sie vor einer Gruppe von BibliothekarInnen und BuchhändlerInnen über ihr Werk sprechen sollte. Diese Begegnung war der Beginn einer innigen Freundschaft. Hier setzt der nun vorliegende Briefwechsel ein: Die beiden schrieben sich bis zu Hartungs Tod elf Jahre später über sechshundert Briefe (von denen in diesem Band eine Auswahl veröffentlicht wurde), trafen sich, wann immer es ihre Zeit erlaubte, besuchten sich und verbrachten gemeinsame Urlaube. Eine Vertrautheit zwischen ihnen war wohl von Anfang an spürbar und so fragt Hartung bereits in einem der ersten Briefe: "Es wurde mir plötzlich klar, wie wenig ich von Ihnen weiß, (…) kurz, was blieb nun eigentlich übrig, was mir vertraut schien? Ihre Art zu denken, Ihre Kraft zu empfinden und die Lebenserfahrungen, die sich von Ihrem Gesicht ablesen ließen."
Durch ihren ausgiebigen Briefwechsel lernten sie sich schnell kennen, ihr Kontakt wurde inniger, sie gingen vom "Sie" zum "Du" über. Lindgren nannte Hartung Scheherezade – und Hartung ist wirklich eine ganz wunderbare Erzählerin - und Louisechen, auf liebevolle Art teilten sie ihren Alltag schriftlich miteinander. Und so ist dieser Briefwechsel ein faszinierendes Doppelporträt der beiden Frauen, ihre jeweiligen Arbeit und ihres Alltags. Er gibt zum einen Einblick auf das Leben in Westberlin zur Zeit des Wiederaufbaus und auf Hartungs Arbeit. Auf der anderen Seite erfahren wir von Lindgrens Alltag und ihrer zunehmenden Bekanntheit als Kinderbuchautorin.
Bereits im Jahr nach ihrem Kennenlernen lud Lindgren Hartung für ein paar Tage in ihr Landhaus nach Schweden ein, ein Wiedersehen, bei dem Hartung sich in Lindgren verliebte, die diese Liebe jedoch nicht erwidern konnte. Sie war aber immer wieder in der Lage, Hartung deutlich zu machen, wie viel ihr an ihr lag, wie sehr sie mochte und schätzte. Ein wichtiger Aspekt ihrer Freundschaft, den der Verlag in seiner Ankündigung nicht erwähnt und damit mit zur Unsichtbarkeit lesbischen Begehrens beiträgt.
Trotz allem teilen die beiden Frauen ihren Alltag "in Tinte". Kaum vergehen zwei drei Wochen ohne Brief. Die HerausgeberInnen Jens Andersen und Jette Glargaard ergänzen die Zeiten, in denen sich die beiden trafen, durch eine kurze Beschreibung, wo sie waren und was sie taten. Hartung kam es vor, als würde Lindgren immer genau die Bücher schreiben, die sie sich wünschte: "Und die Gedanken, die Erlebniskreise, um die herum ich vorsichtig kreise, immer ein Kreis um den anderen, die triffst Du immer genau mitten ins Herz." Und sie teilen so vieles miteinander, mit so viel Lebensfreude neben aller Arbeit und Politik: von Blumen, Natur und Wein bis hin zu Literatur und Musik.
Ergänzt werden die Briefe durch ein Vorwort der HerausgeberInnen, in dem sie Hartungs Leben porträtieren, sowie einem wichtigen und einfühlsamen Nachwort der Schriftstellerin Antje Rávic Strubel, in dem sie auf ein Zitat von Louise Hartung eingeht: "Wir brauchen in der Welt viel mehr Abenteurer der Hingebung, sonst ersticken wir an der Geschäftemacherei und der Bürokratie." Und zwei dieser Abenteurerinnen lernen wir in diesem Buch kennen.
AVIVA-Tipp: Ein wunderschön gestalteter Briefband mit zahlreichen Abbildungen, eine schöne Femmage an die beiden Frauen und ihre Freundschaft, sowie ein lebendiges Zeitbild vor allem von Berlin in den 1950er Jahren.
Astrid Lindgren
wurde am 14. November 1907 auf dem Hof Näs in der Nähe von Vimmerby, Småland, geboren. Ausbildung als Sekretärin. Von 1946 bis zu ihrer Pensionierung 1970 arbeitet sie in einem Verlag. Daneben schreibt sie ihre zahlreichen, mit Preisen überhäuften Bücher wie "Kalle Blomquist", "Ronja Räubertochter", "Die Kinder von Bullerbü", "Pippi Langstrumpf", "Brüder Löwenherz" oder "Michel aus Lönneberga". 1978 erhält sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 1994 den Alternativen Nobelpreis.
Weniger bekannt als ihre Kinderbuchklassiker sind ihre Kriegstagebücher, die unter dem Titel "Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher 1939-1945" im September 2015 im Ullstein Verlag erschienen.
Astrid Lindgrens Bücher wurden in über 96 Sprachen übersetzt und haben sich mehr als 150 Millionen Mal verkauft.
Astrid Lindgren starb im Alter von 94 Jahren am 28. Januar 2002.
Mehr Infos unter: www.astridlindgren.se/de
Eine Biographie von Astrid Lindgren auf FemBio: www.fembio.org
Louise Hartung (1905-1965) kam in Münster als jüngstes von acht Kindern zur Welt. Seit Mitte der 1920er Jahre lebte sie als Sängerin in Berlin und traf dort KünstlerInnen wie die Schauspielerin und Sängerin Lotte Lenya, sowie die Malerin, Organistin und Kunstsammlerin Nell Walden und die Maler Kandinsky, Chagall und Paul Klee. Sie kam in Kontakt mit Bertolt Brecht und wirkte 1928 an der Uraufführung der Dreigroschenoper mit. Während des Faschismus wurde sie aus der Berliner Theaterkammer ausgeschlossen und hatte einige Jahre Auftrittsverbot. Später wurde sie gezwungen, an Wehrmachtskonzerten mitzuwirken, versteckte jedoch in Berlin Jüdinnen, die von der Deportation durch die Nazis bedroht waren. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs arbeitete Hartung in Berlin für das Hauptjugendamt, u.a. im Bereich der Leseförderung. Es war ihr ein großes Anliegen, Lindgrens Bücher bekannt zu machen.
Eine Biographie von Louise Hartung auf FemBio: www.fembio.org
Die Ãœbersetzerinnen
Angelika Kutsch, 1941 geboren, ist eine deutsche Schriftstellerin und Übersetzerin. Kutsch schreibt Kinder- und Jugendliteratur und ist eine renommierte Übersetzerin aus dem Schwedischen. 1975 Sonderpreis zum Deutschen Jugendbuchpreis für ihren Roman "Man kriegt nichts geschenkt". 2014 Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises für ihr übersetzerisches Gesamtwerk.
Ursel Allenstein, geboren 1978, Studium der Skandinavistik, Germanistik und Anglistik in Frankfurt und Kopenhagen. Volontariat und spätere Tätigkeit in der Lizenzabteilung des Hoffmann und Campe Verlags, daneben auch im Lektorat. Seit 2004 nebenberuflich und seit Mitte 2009 ausschließlich als freie Übersetzerin aus dem Dänischen, Schwedischen und Norwegischen tätig.
Brigitte Jakobeit lebt in Hamburg und übersetzt seit 1990 englischsprachige Literatur für Erwachsene und Jugendliche.
Astrid Lindgren und Louise Hartung
Ich habe auch gelebt!
Briefe einer Freundschaft
Ausgewählt und herausgegeben von Jens Andersen und Jette Glargaard
Originaltitel: Jag har också levat!
Aus dem Schwedischen, Dänischen und Englischen von Angelika Kutsch, Ursel Allenstein und Brigitte Jakobeit
Ullstein Buchverlage, erschienen am 18. November 2016
Gebunden mit Umschlag. 592 Seiten
ISBN 978-3-550-08176-7
Euro 26,00
Mehr Infos unter: www.ullsteinbuchverlage.de
Astrid Lindgren und Louise Hartung
Ich habe auch gelebt!
Briefe einer Freundschaft
Ausgewählt und herausgegeben von Jens Andersen und Jette Glargaard
Originaltitel: Jag har också levat!
Aus dem Schwedischen, Dänischen und Englischen von Angelika Kutsch, Ursel Allenstein und Brigitte Jakobeit
Taschenbuch, Klappenbroschur, 592 Seiten
ISBN-13 9783548289847
Ullstein Buchverlage, erscheint am 17.11.2017
Mehr Infos unter: www.ullsteinbuchverlage.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Astrid Lindgren - Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher 1939-1945
Die Kriegstagebücher der schwedischen Kinder- und Jugendschriftstellerin geben Auskunft darüber, was sie zur Ablehnung jeglicher Gewalt und jeglichen Krieges brachte. Wir kennen sie als Erfinderin so berühmter Figuren wie Pippi Langstrumpf, Karlsson vom Dach, Ronja Räubertochter und viele mehr. (2015)
Astrid Lindgren, Sara Schwardt - Deine Briefe lege ich unter die Matratze. Ein Briefwechsel 1971 - 2002
Ein sprachgewandtes zwölfjähriges Mädchen schreibt der berühmten Astrid Lindgren, und es entspinnt sich ein faszinierender Briefwechsel. Der erste Brief der Autorin landete jedoch in der Toilette. (2015)
Astrid Lindgren. Wer ist das? Zum 10. Todestag der Schriftstellerin die erste Lindgren-Biographie für Kinder von Katrin Hahnemann Am 28. Januar 2012 jährt sich Astrid Lindgrens Todestag zum 10. Mal – unsterblich und zeitlos ihre literarischen Figuren Pippi, Ronja, Madita, Michel & Co. Ebenso unvergessen ist Astrid aus Småland (2012)
100. Geburtstag Astrid Lindgren
Fleischklößchen, Zimtschnecken und wilde Himbeeren. Kinderherzen schlagen bei den Geschichten von Pippi Langstrumpf, den Kindern aus Büllerbü, Madita und anderen Figuren höher. (2007)