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Beitrag vom 14.10.2017
Leïla Slimani. Dann schlaf auch du. (Chanson douce)
Tina Schreck
Das Böse befindet sich manchmal näher, als es Eltern lieb ist. Diese schmerzliche Erfahrung müssen Myriam und Paul Massé auf grausame Weise machen, als sie ihrer gewissenhaften Nanny Louise das Kostbarste anvertrauen, was sie besitzen: ihre Kinder. Der Roman der 1981 in Rabat geborenen Journalistin und Autorin wurde mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet und erschien in 32 Ländern.
"Adam ist tot. Mila wird ihren Verletzungen erliegen."
Schon zu Beginn des Buches ist der Tod der beiden Kinder traurige Gewissheit. Und doch gelingt es der preisgekrönten Autorin, die Spannung bis zur letzten Sekunde aufrecht zu erhalten. Mit psychologischem Feingefühl lässt sie die Leser_innen tief in die Gedankenwelt der Figuren blicken, wodurch der Eindruck entsteht, voll und ganz in die Tragödie verwickelt zu sein. Und obgleich der Ausgang der Geschichte bereits bekannt ist, möchte frau dieser zunächst kompetent wirkenden Nanny, der Kindsmörderin, jegliches Vertrauen schenken. Denn das, was geschehen wird, ist so grausam, so unvorstellbar, dass bis zum Schluss die Hoffnung besteht, das alles sei nur ein furchtbares Missverständnis gewesen.
Was bedeutet Muttersein?
Die Kinder aufwachsen sehen, jede freie Minute mit ihnen verbringen, keinen ihrer ersten Schritte verpassen. Traum oder Albtraum? Selbstbestimmte Entscheidung oder "Regretting Motherhood", die Illusion vom Mutterglück? Myriam, die mit Stolz behaupten kann, ihr Jurastudium ohne elterliche und finanzielle Unterstützung mit überdurchschnittlichem Erfolg absolviert zu haben, hat das Hausfrauendasein schon bald satt. Sie schämt sich, von nichts anderem als den Albernheiten ihrer Kleinen und den Unterhaltungen von Fremden, die sie hier und da im Supermarkt belauscht, erzählen zu können. "Milas Capricen nervten sie. Adams erstes Geplapper war ihr gleichgültig." Sie ist eifersüchtig auf ihren Mann Paul, der als erfolgreicher Musikproduzent ein Leben abseits der Familie führt. Als Myriam zufällig auf einen ehemaligen Kommilitonen trifft, der ihr anbietet in seine Kanzlei einzusteigen, will sie sich diese Chance um keinen Preis entgehen lassen. Doch wohin mit den Kindern? Eine Nanny muss her.
Die Märchennanny
Louise, eine manierliche Französin mit blondem Dutt, jahrelanger Berufserfahrung und selbst Mutter einer erwachsenen Tochter, scheint die perfekte Kandidatin zu sein. Mit ihrer ruhigen, kompetenten Art bahnt sie sich sofort den Weg in die Herzen von Mila und Adam. Und auch Myriam und Paul sind begeistert von den Fähigkeiten der adrett gekleideten, gepflegten Frau und stellen sie ohne zu zögern ein. Bald schon hat die neue Nounou nicht nur die Kinder, sondern auch den Haushalt fest im Griff. Routiniert erledigt sie alle ihr aufgetragenen Arbeiten und kümmert sich aufopferungsvoll um die gesamte Familie. Wie selbstverständlich geht sie in der schicken Pariser Altbauwohnung ein und aus und selbst ein gemeinsamer Urlaub scheint den Massés angemessen, verdanken sie doch ihre neu gewonnene Freiheit dieser gewissenhaften Frau, die schon nach wenigen Wochen unentbehrlich geworden ist. Doch schon bald beginnt Louises perfekter Schein zu bröckeln und ihre zwanghaften Obsessionen gelangen langsam die Oberfläche:
"Sie würde sie gern unter eine Glasglocke bannen, wie zwei lächelnde, erstarrte Tänzer auf dem Sockel einer Spieluhr."
Besessen von Myriam und Paul will Louise Teil deren Lebens, dieser perfekten Welt sein. Sie ist die stille Beobachterin, die unbemerkt aber mächtig die unsichtbaren Fäden zieht. Immer mehr rücken die Kinder in den Hintergrund, sind nurmehr Mittel zum Zweck, um nicht in die traurige Realität zurückkehren zu müssen. Vertrauen vermischt sich mit Angst und dennoch schafft sie es, Mila und Adam für sich zu gewinnen. Solange sie sich gebraucht fühlt, kann sie ihre heile Welt aufrechterhalten. Doch welches Leben führt sie außerhalb der Familie? Fragen wie diese werden von den Massés nie gestellt. Als Louises Fürsorge immer krankhaftere Züge annimmt, kippt zwar die anfängliche Euphorie allmählich in immer stärker werdende Aversion, doch auch zu diesem Zeitpunkt hinterfragt das Paar die seltsamen Verhaltensweisen ihrer Nanny nicht. Und obwohl Myriam ihre Nähe schon bald nicht mehr erträgt und Paul angewidert von ihrem überschminkten, perfekten Erscheinungsbild ist, bringen sie es nicht übers Herz, Louise aus ihrem Leben zu verbannen. Ein fataler Fehler.
Eine wahre Geschichte
2012 hat sich in New York ein ähnlicher Fall zugetragen. Marina Krim, Mutter dreier Kinder, trifft mit ihrer dreijährigen Tochter in ihrem Upper West Side Apartment ein, als sie ihren zwei Jahre alten Sohn und ihre sechs Jahre alte Tochter erstochen in der Badewanne vorfindet. Ms. Ortega, die Nanny, hatte versucht, sich durch Stiche in den Hals selbst das Leben zu nehmen, überlebte den Selbstmordversuch jedoch. Zu den genauen Hintergründen schwieg das Kindermädchen bis zuletzt. Wegen ihrer finanziellen Not und der damit verbundenen Belastung, erwog sie, sich in Therapie zu begeben, wobei unklar ist, ob sie dieses Vorhaben jemals in die Tat umsetzte.
AVIVA-Tipp: Leïla Slimani ist mit ihrem Roman "Dann schlaf auch du" ein packender Thriller gelungen, der den Leser_innen einen eiskalten Schauer über den Rücken jagt. Ihre intime Erzählweise lässt eine unangenehme und authentische Identifikation mit allen vorkommenden Figuren zu, wodurch eine bedrückende Nähe zu der unfassbaren Tat entsteht. Das Buch aus der Hand zu legen, ist bereits nach den ersten Seiten nicht mehr möglich.
Zur Autorin: Leïla Slimani wurde 1981 in Rabat geboren und wuchs in Marokko auf. Nach dem Studium an der Pariser Eliteuniversität Sciences Po arbeitete sie als Journalistin für die Zeitschrift "Jeune Afrique". Ihr Roman "Dann schlaf auch du" wurde mit dem höchsten Literaturpreis des Landes, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet und erscheint in 32 Ländern. Ihr ebenfalls preisgekröntes literarisches Debüt "Dans le jardin de l´ogre" wird derzeit verfilmt.
(Quelle: Verlagsinformation)
Weitere Informationen zu Leïla Slimani unter: www.francealumni.fr
Leïla Slimani
Dann schlaf auch du
Originaltitel: Chanson douce
Ãœbersetzerin: Amelie Thoma
Luchterhand Verlag, erschienen am 21. August 2017
226 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-630-87554-5
20,00 Euro
www.randomhouse.de