Henri Parens - Heilen nach dem Holocaust. Erinnerungen eines Psychoanalytikers - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 25.10.2017


Henri Parens - Heilen nach dem Holocaust. Erinnerungen eines Psychoanalytikers
Nea Weissberg

Der Psychoanalytiker Henri Parens wurde 1928 in der polnischen Stadt Łódź als Aron Pruszinowski geboren. Parens, ein Child Survivor, beschrieb 2004 in der amerikanischen Originalausgabe "Renewal of life. Healing from the Holocaust" (die seit Juli 2017 im Psychosozial Verlag auf Deutsch vorliegt) erstmalig Schritt für Schritt die nachträgliche Wirksamkeit der erlittenen NS-Vernichtungsmaschinerie.




Wenn es niemanden mehr gibt, der die Familien Geschichte erzählen kann, so bleibt nur das Erahnen, Erspüren, Kombinieren und Recherchieren: Den kleinsten Erinnerungszeichen innezuwerden, schmerzvolle Details hochkommen zu lassen, sie zu entschlüsseln, analytisch zu hinterfragen und historisch einzuordnen, auf diese Innenreise gelingt es Parens, die Lesenden mitzunehmen.

Parens eigene Holocausterfahrung ist prägend für sein Leben, seine Berufswahl und seine Reflektionen als Psychoanalytiker: "Schon als Jugendlicher wusste ich, dass ich Kindern helfen wollte, wenn sie verletzt wurden. Ich wusste aus eigener Erfahrung, wie eine schreckliche Verletzung das Leben verdüstern kann. Und später habe ich gelernt, dass nicht nur der eigene schreckliche Schmerz eines Individuums, sondern auch die Vernichtung von anderthalb Millionen anderer Kinder eine enorme Belastung für die Hinterbliebenen ist." (S. 228)

Der Begriff "Child Survivors" bildete sich Ende der 1970er in den USA Jahre heraus. Damit sind jüdische Kinder gemeint, die vor oder während der Shoah geboren wurden und von Geburt an von Ermordung bedroht waren.

Erst im Alter von 73 Jahren fühlte sich Henri Parens in der Lage, eine Innenschau zuzulassen: Erinnern heiß zurückgehen in die Familien-und Zeitgeschichte. Parens erzählt seine Lebensgeschichte, die seiner Mutter und seiner Familie und des jüdischen Volkes aus dem Blickwinkel eines elfjährigen Jungen, der im Alltag jiddisch mit seiner Mutter und mit anderen französisch sprach. So erleben wir berührende Passagen im Buch, in dem der Psychoanalytiker sich an sein früheres Selbst zögernd erinnert, zurückkehrt zum Elfjährigen, der noch heute in einem Teil von ihm schlummert.

Der Holocaust ist für die Gegenwart Überlebender von Bedeutung und berührt ihr Leben und das ihrer Kinder. Mit dem Schreiben begann Henri Parens (der seinen polnischen Namen in den USA amerikanisiert hat) am 14. August 2002, am 60. Jahrestag der Deportation seiner Mutter in das Konzentrations-und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Nachträglich schmerzte ihn als Psychiater die eigene seelische Zerrissenheit, sich mit der "gequälten und quälenden Vergangenheit", die von einem "leeren Etwas" überlagert wird, zu konfrontieren: "Seit Jahren höre ich, ´wir müssen Zeugnis ablegen´, und trotzdem konnte ich das bis jetzt nicht angehen." (S. 14 / vgl. S. 16 und 18).

Seine Mutter Rosa Prusinowska verließ mit ihrem jüngeren Sohn Aron 1932 ihre polnische Heimatstadt Łódź. Den älteren Sohn Emanuel ließ sie beim Kindesvater (von dem sie geschieden war) zurück. In Osteuropa war die Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung in jener Zeit spürbarer und virulenter als in Westeuropa. Mutter und Sohn emigrierten nach Brüssel, wo bereits seit 1900 einige Verwandte lebten. Seine Mutter arbeitete dort als Schneiderin.

Im Rahmen der deutschen West Offensive griffen am 10. Mai 1940 Verbände der deutschen Heeresgruppen A und B das neutrale Belgien an. Infolge dessen ist Aron gemeinsam mit seiner Mutter vor der einmarschierenden Wehrmacht von Belgien nach Frankreich geflohen, um Asyl zu ersuchen. Sie wurden in Baracken des Internierungslagers "Camp de Rivesaltes", nahe der Stadt Perpignan, nördlich der spanischen Grenze, in der sogenannten "Freien Zone" eingesperrt.

Anfang 1942 gelang es Aron auf Drängen seiner Mutter mit einer Kindergruppe zunächst in ein OSE-Heim im Kanton Saint-Raphaël in der Region Provence-Alpes-Côte d´Azur fliehen und später in die USA. Bereits nachfolgende jüdische Kindergruppen, interniert in Rivesaltes, wurden von französischen Garden, Nazi-Kollaborateuren des Vichy-Regimes, an der Flucht gehindert. Sie wurden in die sogenannte "besetzte Zone" ausgeliefert und nach Auschwitz-Birkenau deportiert.

Im Mai 1942 erwirkte das OSE (das ´Œuvre de Secours aux Enfants, eine französisch-jüdische Kinderhilfsorganisation), dass die Eltern der für die Verschickung nach Amerika eingeteilten Kinder bei der Einschiffung ihrer Söhne und Töchter in Marseille zum Abreisetermin des Konvois dabei sein durften. Hier sah Henri Parens seine Mutter zum letzten Mal, er war nicht darauf vorbereitet worden, sie nie wieder zu sehen. (Vgl. S. 90-91)

Immer wieder berührend sind kleine Passagen, wenn Parens Erinnerungen sein Herz schwer umspannen, ihm die Luft abschnürt, die in der deutschen Ausgabe (auch in der englischsprachigen) vorzugsweise zunächst auf Jiddisch oder Französisch wiedergegeben werden, bevor der Inhalt in der deutschen Übersetzung zu lesen ist.

Vor der organisierten Schiffsabfahrt, wurden die Kinder zwecks Visaerstellung fotografiert. Parens lässt auf sich die wissenschaftlichen Untersuchungen zu Kindern von Überlebenden und überlebenden Kindern seiner Kolleginnen, den Psychiaterinnen Dr. Judith Kestenberg und Dr. Ira Brenner, auf sich wirken. Beide sind federführend in der Erforschung der nachträglichen Wirksamkeit des Holocaust auf die Child Survivors und die Second Generation.

"Auf dem Foto sehe ich adrett aus, finde ich, mit Jackett und weißem Hemd. Der Hemdkragen liegt über dem Revers meines neuen Blazers, wie es damals in Europa Mode war. In meinen Augen liegt aber der Blick ‚vom Hunger abgemagerter Kinder mit ihren ´Erwachsenenaugen´, den laut Judy Kestenberg und Ita Brenner die Ärztin Dr. Adina Szwaiger im Warschauer Ghetto registriert hatte. Ich weiß, was sie gemeint hat. Wenn ich dieses Foto anschaue – was selten vorkommt –, fällt mir das alles wieder ein." (S. 89).

Seine Mutter, die ebenfalls versucht hatte aus dem Lager Rivesaltes zu fliehen, wurde aufgrund eines Verrats eingefangen. Am 14. August 1942 wurde sie vom Abgangsbahnhof Le Bourget-Drancy mit dem Transport Nr. 19 zusammen mit anderen eintausend Menschen ins Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau verschleppt und dort der systematischen Tötung bürokratisch "Endlösung" – genannt - preisgegeben. Einer aus dieser Transportliste überlebte: Serge Klarsfeld. (Vgl. S. 222)

Sein Bruder und sein Vater haben die Shoah in Łódź nicht überlebt, 2004 lagen Parens noch keine genauen Umstände vor, bzw. fand er noch nicht die Kraft, diese zu recherchieren. Einer seiner drei Söhne wollte ihn dabei unterstützen.

Ausweichen vor der schmerzlichen Nachforschung:

Sich die Erniedrigung und den Schmerz annähernd zu imaginieren, den seine Mutter, sein Vater, sein Bruder und das jüdische Volk erlitten haben, stellte für Parens eine große Belastung dar, die zeitweise zu psychosomatischen Störungen beim Schreiben und zu Schreibverzögerungen führten. Allmählich überwand er mit Unterstützung seiner Familie, Freunden, Kollegen und Ärzten sein Sich Verschließen.

Lange zögerte er nach Israel zu reisen, weil er sich verpflichtet fühlte, die Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem aufzusuchen. 1999 war es soweit: "Als wir das Gelände von Yad Vashem betraten, zitterte ich am ganzen Leib, wie wenn ich den Geistern meiner Vergangenheit begegnen sollte. Innerlich war ich verängstigt, obwohl das nach außen nicht unbedingt sichtbar war. Es war ein Gefühl, als würde ich jetzt ein für alle Mal die Bestätigung bekommen, dass meine Mutter, mein Vater, mein Bruder, andere Familienmitglieder alle tot waren, vernichtet." (S.149)

In Israel fühlte sich Parens zuhause, angekommen, mit anderen verbunden, verspürte Ruhe und innere Sicherheit. Mit Stolz und Wärme erfüllte ihn sein auf Jiddisch gesprochener Satz "Ich bin a Yid", ohne sich bedroht zu fühlen wie in Zeiten seiner Kindheit in Polen, Belgien und Frankreich.

Als Kinderpsychiater und -analytiker tritt Parens für die Prävention gesellschaftlicher Alltagsschwierigkeiten ein. Er setzt sich mit den psychosozialen Voraussetzungen der frühen Kindheit auseinander, stellt sich daher die Frage, wie man Kinder positiv beeinflussen und fördern kann, sodass aggressive und destruktive Verhaltensweisen, emotionale Verstörtheit bereits im Kindesalter abgeschwächt und möglicherweise aufgehalten, bzw. umgeleitet werden können.

Parens ist sich des Wertes der Kindheit bewusst und beschäftigt sich mit der ´condition humaine´, den Verpflichtungen des Menschseins. Er fragt sich, welche Mechanismen für Phänomene wie bösartige rassistische Vorurteile, die sich in aggressiv herabsetzender Sprache, in psychischer und / oder körperlicher Gewalt, in Fremdenfeindlichkeit, in Hass, in Raub bis hin zu tödlichen Gewaltverbrechen äußern, verantwortlich sind.

Aufgrund seiner Untersuchungen zur kindlichen Entwicklung vertritt Parens die Ansicht, dass maßlose Erlebnisse von Gekränktheit und Unlust zu feindseliger Zerstörungswut führen können. Deswegen plädiert er für die Prävention emotionaler Störungen bei Kindern durch psychoanalytisch orientierte Programme zur Förderung elterlicher Kompetenz und entwickelte mit seinen Kollegen Programme der frühkindlichen Entwicklung.

Henri Parens wendet sich gegen Rassenhass, Diskriminierung, Gewalt gegen Minderheiten, gegen Fremdenhass, gegen Judenfeindlichkeit und islamisch motivierten Antisemitismus. Er plädiert dafür, Wege des friedlichen Zusammenlebens zu suchen und zu fördern und kooperiert mit Kollegen international.

Das Buch verdeutlicht, dass 72 Jahre nach dem am jüdischen Volk systematisch begangenen Mord, seelische Verletzungen durch Schwerst-Traumatisierung bei den Überlebenden, individuell und kollektiv zurückbleiben – trotz einer gut gelungenen sozialen Position und Integration im Alltag.

"Der Schmerz der Misshandlung, in extremis hat seine eigene Gesetzmäßigkeit. Obwohl er in vielen von uns nicht die Selbstachtung zerstören konnte, belastet der bleierne Schmerz den Rest des Lebens. Er macht Weh, Trauer, stille Wut. Er deprimiert. Aber er konnte und kann weder ´mich´, ´uns´ noch die, die ich mehr als mich selbst liebe, auslöschen. Wir haben es überlebt, viele von uns. Zu viele haben es nicht überlebt. Für die Überlebenden ging das Leben weiter. Merkwürdig, wie unter all dem Leiden das Leben weiterging." (S.21)

In einer nachfühlbaren und Herz ergreifenden Innenschau schildert Henri Parens seine Gefühle von Schmerz, Erniedrigung, Scham, Schuldgefühl, Angst, Zorn, Elend, Verletzlichkeit...

Parens unterscheidet zwischen "gutartigen und bösartigen Vorurteilen". Es ist das "Feindseligwerden", das Hass hervorruft. Gefährlich wird es, wenn dieses Gefühl durch Politiker bzw. Politikerinnen mittels Feindbildpflege externalisiert wird und durch eine inszenierte verzerrte Darstellung eines als fremd wahrgenommen Anderen geschürt wird. Ein gesellschaftspolitisches Konstrukt, das staatlicherseits Unfrieden stiftende Verbalattacken auf als fremd wahrgenommene Andere legalisiert, führt zu öffentlichen Diffamierungen, kollektiven Ausgrenzungen, öffentlichen Demütigungen und feindseligen, hassgetriebenen Übergriffen und mörderischen Verbrechen.

Die Vergangenheit reicht in die Gegenwart hinein, trotz der oft gehörter Unkenrufe "es muss doch mal Schluss sein!" klingen die Folgen des "Dritten Reiches" und seiner menschenverachtenden Ideologie beidseits von Auschwitz bis heute nach.

AVIVA-Tipp: Das Buch "Heilen nach dem Holocaust" kann in Deutschland als eine gesellschaftspolitische Aussage gegen die sich zunehmend etablierende rechtspopulistische Verhöhnung und sprachliche Verrohung deutscher Patrioten und Patriotinnen gelesen werden, die sich einerseits des Nazivokabulars bedienen und andererseits mit Vehemenz negieren wollen, dass auch sie zum historischen Erbe des Nazismus gehören.

Ein lesenswertes Buch, das wichtige Denkanstöße bietet.

Henri Parens
Heilen nach dem Holocaust
Erinnerungen eines Psychoanalytikers

Psychosozial Verlag, erschienen Juli 2017
Softcover, 318 Seiten
ISBN 978-3-8379-2731-3
Euro 34,90
www.psychosozial-verlag.de


Literatur

Beitrag vom 25.10.2017

Nea Weissberg