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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 12.11.2017


Anne von Canal - Whiteout
Bärbel Gerdes

Die vielen Schichten des Eises spiegeln sich in der Erinnerung der Protagonistin von Anne von Canals neuem Roman. So wie der Horizont beim Whiteout verwischt, löst sich auch die tiefe Freundinnenschaft zweier Mädchen im Verschwinden auf.




Ununterscheidbar werden Boden und Himmel, Oben und Unten. Die Landschaft verliert sich in Weiß, es gibt keine Bezugs- und Orientierungspunkte mehr. Die 1973 geborene Autorin Anne von Canal, die mit "Der Grund" 2014 debütierte, schickt Hanna auf eine Antarktisexpedition und konfrontiert sie gleichzeitig mit ihrer Vergangenheit.

Lieber Amundsen, Scott ist tot. Melde dich, Wilson." So lautet die Mail, die Hanna in der eisigen Polarregion erreicht, wo sie als Expeditionsleiterin die tieferen Schichten des Eises ans Tageslicht bringen soll, um die Vergangenheit zu verstehen. Mit vier anderen Teilnehmenden, drei Männern und einer Frau, führt sie Kernbohrungen im Eis durch.
Diese Mail aber konfrontiert sie mit einer weit zurückliegenden Vergangenheit: ihrer Freundschaft, ja, Liebe zu Fido. Mit ihrem Bruder Jan erlebte Hanna per Hörspiel-LP die vergebliche Reise Scotts zum Nordpol. Amundsen war schneller. Und Wilson, Scotts Begleiter, verstarb als Erster. Jan und Hanna spielen diese Expedition immer wieder nach, obgleich keiner Scott, der Verlierer sein wollte – bis Fido auftauchte: "Einfach so, ohne Zögern, übernahmst du die nicht besetzte Rolle des Unterlegenen. Deine Gelassenheit verunsicherte mich. Aber sie war nicht gespielt, es machte dir wirklich nichts aus. Mehr noch: Im Licht deiner Gleichmut erschienen plötzlich die unpopulärsten Dinge interessant."

Die beiden Geschwister und Fido, das Mädchen aus dem kalten Pfarrhaus, das ein Schulheft im Kühlschrank bewahren muss "damit sich meine Sünden länger frisch halten", gehen eine sehr enge Freundschaft ein. "So dicht nebeneinander fuhren wir, dass wir einen gemeinsamen Schatten warfen". Sie planen die Zukunft und wollen zusammen nach Hamburg zum Studium gehen – Meeresbiologie, Geologie und Geophysik, unterschiedlich und doch einander ergänzend.
Doch dazu kommt es nicht.
Nach zehn Jahren verschwindet Fido und geht "so leicht aus unserer Freundschaft, aus unserem Leben …, als wären wir bloß flüchtige Bekannte gewesen." Sie bricht den Kontakt radikal ab.

Im ewigen Eis wird Hanna mit Fidos Todesnachricht konfrontiert, zwanzig Jahre nach ihrem Abtauchen. Hanna wird dadurch völlig aus der Bahn geworden, rekapituliert die Erinnerungen, die gemeinsame Vergangenheit. Sie fahndet nach Hinweisen und trauert, immer noch fassungslos. Wie die Bohrung täglich tiefer wird, (ver-)bohrt sich Hanna immer mehr in das Gewesene.

Sehr bildhaft gestaltet Anne von Canal diese Freundschaft. Vielleicht taucht einmal zu viel der Markenname eines Produktes auf, um die Zeit genauer zu verorten. Doch atemlos verfolgt die Leserin die rückwärtige Suche und wird selbst im Whiteout belassen, denn Antworten gibt uns die Autorin nicht.

Es ist klar, dass darunter Hannas Arbeit leidet. Dass sie sich aber so dilettantisch als Expeditionsleiterin gebärden muss, dass sie derart gravierende Fehler macht, die selbst von Lehnstuhl-Reisenden leicht zu identifizieren sind, ist ärgerlich. Sie selbst kommentiert dies mit "Aber deshalb muss man ja nicht gleich so ein Theater veranstalten", während uns ihr Kollege aus der Seele spricht:"Man kann sich fragen, wie du zu deinem Job gekommen bist."
Trotz dieser kleinen Schwäche wirft von Canal große Fragen auf: Was tun, wenn ein Mensch, dem wir nahe standen, plötzlich aus unserem Leben verschwindet? Wenn nichts mehr bleibt? Und wenn sich alles auflöst in großer undurchdringlicher Weiße?

AVIVA-Tipp: Berührend und melancholisch, über die gesamte Länge des Romans die Spannung haltend, hat Anne von Canal eine bilderreiche innere und äußere Reise beschrieben, die wir gerne mit antreten.

Zur Autorin: Anne von Canal, 1973 in Siegen geboren, studierte in Freiburg im Breisgau Skandinavistik, Germanistik und Anglistik. Anschließend arbeitete sie als Lektorin in der Verlagsgruppe Lübbe und im Rowohlt Verlag. Nachdem sie sich 2008 als freie Übersetzerin selbständig machte, debütierte sie 2014 mit ihrem Roman "Der Grund", der ins Estnische, Französische und Lettische übersetzt wurde. Darüber hinaus veröffentlichte sie in verschiedenen Anthologien. Für ihren Roman "Whiteout" (2017) erhielt sie ein Werkstipendium des Deutschen Literaturfonds. Er wurde vom NDR als "Buch des Monats" ausgewählt.
Mehr Infos zu Anne von Canal unter: www.anne-von-canal.de

Anne von Canal
Whiteout

Mare Verlag, erschienen im August 2017
Hardcover, 192 Seiten, mit Lesebändchen
20,00 Euro
ISBN: 978-3-86648-247-0
Mehr zum Buch unter: www.mare.de




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Beitrag vom 12.11.2017

Bärbel Gerdes