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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 22.11.2017


Mira Magén - Zu blaue Augen
Magdalena Herzog

Erneut legt die renommierte, mit dem Preis des Premierministers 2005 ausgezeichnete israelische Schriftstellerin Mira Magén einen Roman vor, der sich dem Leben von Frauen widmet. Dieses mal geht es um die betagte Hannah und ihre drei Töchter, von denen ...




... keine den Erwartungen der israelischen Gesellschaft entspricht, Partner_in und Kinder zu haben und täglich das Familienleben zu preisen. Drei Frauen leben schlicht vor sich hin, fast teilnahmslos an ihrer Umgebung und schälen sich langsam aus der Routine heraus, um das Leben neu anzupacken.

Familie Jona

Hannah Jona ist die Hauptfigur des Romans, sie ist die Frau mit den zu blauen Augen, die "wie blaue Polizeilichter" leuchten: Sie ist das Oberhaupt der Familie und des Hauses in Jerusalem, in dem sie mit ihren drei Töchtern Jardena, Simona und Orna lebte, ihrer Enkeltochter Dana und ihrer Hauthälterin Johanna. Johanna kam aus Rumänien allein wegen der Arbeit und sie ist diejenige, die das Band zwischen den Familienmtgliedern herstellt, die eher nebeneinander als miteinander leben. So sorgt sie für Schutz vor dem bösen Blick durch drei rote Blusen, die fortwährend auf der Leine aus dem Fenster hängen müssen und zum Motiv für Weltvertrauen und die Versprechung von Glück in dem Roman werden. Die 77-jährige Hannah sorgt resolut für ihr Gück, indem sie Demenz vortäuscht, damit die Sozialversicherung die Leistungen von Johanna bezahlt, die ihr als einzige tatsächlich Gesellschaft leistet. Nachts entschwindet sie regelmäßig in Bars, trinkt und genießt die Aufmerksamkeit der Männer. Tagsüber ist sie damit beschäftigt, die Balance zu halten zwischen tatsächlichen Altersschwächen und dem Vorgaukeln derselbigen und dabei ist sie manchmal ziemlich lustig. Sie ist die temperamentvolle Protagonistin des Romans, fordert Präsenz ihres Gegenübers und lernt im hohen Alter nocheinmal, sich zu verlieben und für eine enge Verbindung zu kämpfen. Sie greift gewissermaßen in die Vollen im Leben.

Die Töchter sind beruflich etabliert als Hotelmanagerin, Ärztin und Wissenschaftlerin. Viel mehr an menschlichen Verbindung und Erlebnissen haben die drei nicht – sie werden vorgestellt als emotional unbeteiligt und taub, zwar klar in ihren Handlungen, jedoch auf eine Art und Weise nüchtern, die deprimierend ist – sie leben schlicht ihren Alltag ohne größeres Aufhebens vor sich hin, ohne ausgesprochene Wünsche oder Begeisterungen. Natürlich muss hier eine Veränderung her, die über die Großen Momente des Lebens, über Liebe und Mutterwerden, passieren muss. Frau/Man könnte auch sagen: Das Leben hat diese drei Frauen noch nicht mit viel Glück bedacht oder diese Frauen haben nicht das Temperament, Glück, das ihnen widerfährt, auch zu erleben.

Pragmatisch in die Veränderung

Dieser Veränderungsprozess wird durch Rafi eingeleitet, den neuen Untermieter im Haus. Er gibt vor, Dichter zu sein, doch folgt er einer anderen Agenda – er möchte die alte Frau dazu bringen, das Haus zu verkaufen, um wiederum von einem Bauunternehmer die Gewinne zu erhalten.

Der Ausgangspunkt ist von Magén gut konstruiert – diese Konstruktion wird Dreh- und Angelpunkt des Romans und führt über allerlei Verstrickungen und Missverständnise – so viel darf gesagt werden – zu einem guten, wenn auch nicht fulminanten happy End. Der Roman lebt vor allem durch lange Passagen, die jedem der Protagonist_in allein gewidmet ist und in denen ihr Leben, ihre Gedanken- und Erlebniswelt vorgestellt wird. Simonas Welt ist die Klinik, der Umgang mit Krankheit und die Beziehung zu ihren Patient_innen. Einer davon ist ihr Ex-Freund Michael, ebenfalls Arzt und nun an Krebs erkrankt – nimmt sie sein Angebot der Samenspende an, um schwanger zu werden? Ohne einen anderen Menschen ins Vertrauen zu ziehen, vollzieht sie pragmatisch diesen Schritt, durchlebt allein die ersten Wochen und teilt es eher beiläufig als erfreut ihrer Famillie mit. Auch ihre Schwestern gehen emotional verschlossen ihren Weg – verlassen das gemeinsame Haus und beginnen, die Welt stärker wahrzunehmen und verdächtigen sogar die roten Blusen, für die neue Dynamik verantwortlich zu sein. Dieser Weg und der ihrer beiden Schwestern hat in seiner Unaufgeregtheit etwas überraschend Realistisches, was teilweise mit der Sprache und der konstruierten Handlung Magéns nicht Hand in Hand geht.

Das kleine Erlebnis als Glück erleben

Tatsächlich berührend hingegen ist Rafi – ein Mann vielleicht in seinen 40ern, der in Selbstgesprächen sich selbst mit Passagen aus der Tora antwortet und wie die Töchter nicht viel Glück vom Leben abbekommen hat. Selbstverständlich steht hinter seinem unrühmlichen Plan ein anderes Motiv als ein bösartiges – das stellt Magén mit ihrer Beschreibung eines sympathischen Mannes klar, so, wie auch sonst keiner der Protagonist_innen eine schlechte Person ist, vielmehr sind alle in ihren inneren und äußeren Zwängen gefangen.
Rafi hat sich als Person aufgegeben – es ist die neue Mieterin Julia, deren Präsenz ihn wachküsst, die ihn zu Körperpflege und Charme verhilft und als es passiert, dass er eine Nacht mit dieser Frau verbringt, da ist er so glücklich, kriecht unter ihre Bettdecke, um ihrer Wärme nachzuspüren und sie zu riechen und zu sich sagt "Rafi, so was erlebt man nur einmal im Leben, nur ein einziges Mal!" Diese Bescheidenheit ist es wohl, die ihn diesen Moment derart intensiv erleben lässt, dass er sich als Glück beschreiben lässt und der ihn tragen wird – zumindest für einige Zeit. So ist er gemeinsam mit Hannah Jona die interessanteste Person in Mira Magéns anrührender Geschichte.

AVIVA-Tipp: Der Roman ist über weite Strecken eine leichte und angenehme Lektüre – er kommt etwas langsam in Fahrt, baut jedoch Spannung auf. Teilweise wirken die Verquickung der Umstände zu konstruiert und die Sprache hat eine kitschige Anmutung, wenn sich diese im nächsten Moment jedoch auch als sehr kluge Beobachtungen des Lebens herausstellen können.

Zur Autorin: Mira Magén, Anfang der fünfziger Jahre in Kfar Saba (Israel) geboren, blieb der orthodoxen, ostjüdisch geprägten Welt ihrer Kindheit bis heute verbunden, die Stationen ihrer Biographie verraten jedoch eine Revolte: Studium der Psychologie und Soziologie, Ehe und Kinder, alle fünf Jahre ein anderer Beruf - Lehrerin, Sekretärin, Krankenschwester und schließlich Schriftstellerin. Magén zählt neben Zeruya Shalev zu den bedeutendsten Autorinnen ihres Landes. Ihr Werk, das Romane und Erzählungen umfasst, wurde u.a. mit dem Preis des Premierministers 2005 ausgezeichnet. Mira Magén lebt in Jerusalem und hält viel beachtete Poetik-Vorlesungen, derzeit an der Hebräischen Universität Jerusalem. Mira Magén hat drei Kinder und ist Mitglied in der israelischen Friedensbewegung Schalom Achschaw.

Mira Magén
Zu blaue Augen

Originaltitel: Eynayim Kchulot Miday
Aus dem Hebräischen übersetzt von Anne Birkenhauer
dtv, Deutsche Erstausgabe erschienen Februar 2017
Gebunden mit Lesebändchen, 384 Seiten
Preis: 21,00 Euro
ISBN: 978-3-423-26129-6
www.dtv.de

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Interview with Mira Magén
The writer Mira Magén was born into an orthodox family in Kfar Saba (Israel) in the 1950s. Her biography shows a rebellious mind: she studied psychology and sociology, was a housewife and mother, had a new profession every five years – teacher, secretary, nurse, and eventually a writer. Magén is amongst the most important writers of Israel. A Selection of her novels and short stories were awarded the Prize of the Prime Minister in 2005, among other prizes. Mira Magén lives in Jerusalem and is also a lecturer at Jerusalem University. AVIVA-Berlin met her in Berlin where she presented her latest novel. (2010)

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Beitrag vom 22.11.2017

Magdalena Herzog