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Beitrag vom 05.12.2017
Arundhati Roy - Das Ministerium des äußersten Glücks
Silvy Pommerenke
Die in Kerala geborene Schriftstellerin und Globalisierungskritikerin Arundhati Roy wollte nichts schreiben, "was leicht runterrutscht, wie Baby Brei". Das ist ihr gelungen. Ihr zweiter Roman (nach: "Der Gott der kleinen Dinge") handelt vom Brennpunkt Indien mit seinem degradierenden Kastensystem und seiner konfliktgeladenen Geschichte und Gegenwart. Er handelt aber auch von Liebe und Zuversicht.
Dabei gestaltet sie ihre Figuren und den Plot bedächtig und ohne Eile. Das lässt der Leserin Zeit, sich mit dem indischen Vokabular, den Gepflogenheiten und der Historie vertraut zu machen. Das ist allerdings auch notwendig, denn Arundhati Roy ließ sich zehn Jahre Zeit für ihren zweiten Roman. Das ist spürbar in seiner Komplexität und seiner Dichtheit. Ihr Erstling, "Der Gott der kleinen Dinge", erschien 1997 und erhielt noch im Jahr seines Erscheinens den Booker Prize. Danach hat sie sich explizit dem politischen Essay und der politischen Arbeit gewidmet. Vieles davon ist in ihren zweiten Roman eingeflossen. Sei es der Konflikt zwischen Hindus und Muslimen bzw. die latent faschistischen Tendenzen einiger Hindus, die antimuslimischen Pogrome von 2002 oder die Anschläge auf die Twin Towers. Auch das diskriminierende Kasten-System, an dessen unterster Stufe die sogenannten Unberührbaren stehen, die Ausgrenzung von Intersexuellen, Ausbeutung von ArbeiterInnen oder Armut werden von ihr immer wieder thematisiert. Und natürlich die Katastrophe von Bhopal und der ewig brodelnde Kaschmir-Konflikt.
Im "Ministerium des äußersten Glücks" steht dabei anfangs die Figur der Hijra Anjum im Mittelpunkt (Hijra bedeutet Intersexuelle/r bzw. das dritte Geschlecht), verlagert sich aber im Laufe des Buches zu einem anderen Handlungsstrang, nämlich zu der Liebesgeschichte zwischen zwei Männern und einer Frau, die letztendlich aber doch von der Politik und dem Bürger*innenkrieg überschattet wird. Während des Lesens stellt sich so manches Mal die Frage, wie Arundhati Roy es schaffen wird, die unterschiedlichen Handlungsstränge, die scheinbar keinen Zusammenhang haben, wieder ineinander führt. Und natürlich schafft sie es. Trotzdem ist der Roman übervoll von Figuren, von Geschichten und politischen Konflikten. Und ganz nebenbei werden Nietzsche, Schopenhauer, Sokrates, Jean Genet oder Anna Achmatowa zitiert (nur, damit Sie wissen, wohin die literarische Reise geht). Arundhati Roy möchte in diese knapp sechshundert Seiten so viel wie möglich packen. Für die Leserin, die nicht so sehr mit der Geschichte Indiens (respektive Pakistans, Bangladeschs und nicht zuletzt Kaschmirs) vertraut ist, bedeutet das, ganz viel Hausaufgaben machen zu müssen. Ohne weiterführende und erklärende Sekundärliteratur ist "Das Ministerium des äußersten Glücks" kaum zu bewältigen. Zumal viele historische Namen modifiziert sind und das Recherchieren zu den Hintergründen oftmals schwerfällt. Arundhati Roy verlangt wirklich viel von ihren Leserinnen, auch mit ihrem sprunghaftem und assoziativem Schreibstil. Aber, wenn langsam Licht ins scheinbar verworrene Dunkel gelangt, dann ist die Lektüre von Arundhati Roy wirklich ein Hochgenuss der Extraklasse.
Sie selbst sagte zu der Vielfalt und dem non-chronologischen Erzählen in einem Interview mit dem Tagesspiegel: "Für ein Buch wie ´Das Ministerium des äußersten Glücks´ kann man nicht einfach ein Exposé schreiben, das man dann abarbeitet. Es handelt von Liebe, Kasten, Kaschmir, Intimität, Kummer, vielem anderen. Das Politische spielt da immer mit rein …. Ich habe Architektur studiert, und ich wollte ein Universum schaffen, durch das es viele Wege gibt. Formal ist mein Buch von Schnellstraßen und Gassen durchzogen. Man muss mal hier, mal dort abbiegen. Eine Stadt lernt man ja auch nicht kennen, wenn man nur auf den Hauptstraßen bleibt."
Und ihre Abzweigungen sind manches Mal aberwitzig und amüsant. Roy führt mit subtilem Humor durch die Klippen der historischen Ereignisse und wechselt in ihrem Schreiben von poetischer Anmut zu derben Fäkal-Ausdrücken. Also ebenso vielfältig, wie das Leben selbst ist. In Erinnerung aber bleibt ihre berauschende Poesie, die selbst noch in ihrer Danksagung zu finden ist. Die poetische Ausdrucksweise benutzt sie auch, um manches Mal den Inhalt mit der Form zu brechen. Gewalt mit Poesie zu beschreiben klingt absurd. Arundhati Roy gelingt es dennoch, und gibt dem "Repertoire an Gräueln" damit eine neue Gestalt. Keine schönere, aber es macht es erträglicher beim Lesen.
Zuletzt bleibt noch der befremdliche Buchtitel, der so gar nicht zum Inhalt des Romans passen will. Aber Arundhati Roy klärt auch diese Frage im Gespräch bei "Sternstunde Philosophie": Der Buchtitel sei keineswegs satirisch gemeint. Die Figuren im Buch finden - zwischen den ganzen Dramen - an ungewöhnlichen Orten auch Poesie, Musik und Glück. Es handelt von Liebe und Krieg. Und von Menschen, die wissen, dass Glück keine feste Einrichtung ist. Von äußerst verletzlichen Menschen, die in der Mitte von Allem Menschlichkeit finden.
AVVA-Tipp: Die Lektüre von "Das Ministerium des äußersten Glücks" ist keine einfache, aber die Mühe lohnt sich! Die poetische Aufarbeitung eines kriegerischen Themas und die Hinwendung zu den Außenseiter*innen der Gesellschaft zeichnet diesen zweiten Roman aus. Und damit erfüllt sich für sie auch eine Herzensangelegenheit: den Kaschmir-Konflikt und die indische Lebenswelt einem größeren Publikum nahe zu bringen.
Zur Autorin: Arundhati Roy wurde 1959 oder 1961 geboren (es finden sich beide Geburtsjahre in unterschiedlichen Quellen), wuchs in Kerala auf und lebt seit ihrem sechzehnten Lebensjahr in Neu-Delhi. Neben dem Schreiben von Prosaliteratur verfasst sie auch Drehbücher und ist politische Aktivistin und Globalisierungskritikerin. Den internationalen Durchbruch schaffte sie mit ihrem Roman-Debüt "Der Gott der kleinen Dinge", für das sie 1997 den Booker Prize erhielt. Aus der Weltliteratur der Gegenwart ist er nicht mehr wegzudenken. In den letzten zehn Jahren widmete sie sich außer ihrem politischen und humanitären Engagement vor allem ihrem zweiten Roman "Das Ministerium des äußersten Glücks". 2004 erhielt Arundhati Roy für ihr soziales Engagement und ihr Eintreten für Gewaltfreiheit den Sydney Peace Prize. Ein Jahr drauf, 2005, lehnte sie den Sahitya Akademi Award ab, der der höchste Literaturpreis Indiens ist. Als Grund dafür gab sie an, dass sie u.a. mit der indischen Atom-Politik nicht einverstanden sei. Und im Jahr 2015 gab sie aus Protest (zusammen mit 23 anderen Künstler*innen) einen nationalen Preis zurück, den sie 1989 für das beste Drehbuch gewonnen hatte.
Was wir (AVIVA-Berlin) an dieser Stelle nicht verschweigen können und als inakzeptabel empfinden: Arundhati Roy unterstützt den BDS und befürwortet damit einen kulturellen Boykott gegen Israel.
Arundhati Roy im Netz: www.facebook.com/ArundhatiRoy
Zur Ãœbersetzerin: Anette Grube, geboren 1954, lebt in Berlin. Sie ist die Ãœbersetzerin von Arundhati Roy, Vikram Seth, Chimamanda Ngozi Adichie, Mordecai Richler, Kate Atkinson, Monica Ali, Manil Suri, Richard Yates u.a. (Quelle: Verlagsinformationen)
Arundhati Roy
Das Ministerium des äußersten Glücks
Originaltitel: The Ministry of Utmost Happiness
Ãœbersetzt von Anette Grube
S. Fischer Verlag, erschienen August 2017
Gebunden mit Schutzumschlag, 556 Seiten
ISBN: 978-3-10-002534-0
Euro 24,00
Mehr zum Buch unter: www.fischerverlage.de
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