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Beitrag vom 19.01.2018
Kursbuch 192 - Frauen II
Christina Mohr
1977 erschien das erste "Kursbuch Frauen" – jetzt, vierzig Jahre später, ein zweites. Was hat sich seit damals verändert, welche Fragestellungen beschäftigen "uns", 2017/18? 1977 war die bundesdeutsche Realität eine andere als heute: Die beiden deutschen Staaten waren getrennt, die BRD durchlebt den "deutschen Herbst", in der DDR werden die Ausreisebedingungen verschärft. Mit der Reform des Eherechts in der BRD wird die sogenannte "Hausfrauenehe" de facto abgeschafft, existiert...
... in der Praxis und in den Köpfen allerdings weiterhin.
Und: Die Zeitschrift EMMA wird gegründet. Ob das Erscheinen des "feministischen Kampfblatts" mitverantwortlich für die erste Frauen-Ausgabe, laufende Nummer 47 des 1965 von Hans Magnus Enzensberger gegründeten und damals bei Rotbuch verlegten Kursbuchs war, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Tatsache ist, dass Alice Schwarzer sowohl in der 1977er-, als auch in der aktuellen Ausgabe mehrfach Erwähnung findet – zumindest ihr Status als Reizfigur hat sich innerhalb von vierzig Jahren kaum verändert.
Die Themen allerdings schon, vor vierzig Jahren lauteten die Kapitelüberschriften des Kursbuchs Frauen unter anderem: "Emanzipation macht Angst", "Ich war Animierdame", "Über Rockerbräute", und "Frauen in Kneipen" - es scheint, als hätte anno ´77 eine Art feministischer Standortbestimmung vorgenommen werden müssen: Wo findet Frauenleben statt? Was machen Frauen außerhalb der heimischen vier Wände? Was anfangen mit der zumindest qua Gesetz gegebenen Gleichberechtigung?
Das aktuelle "Kursbuch 192 Frauen II" beschäftigt sich mit Gender-Studies beziehungsweise den Anfeindungen, denen das relativ junge Wissenschaftsfeld ausgesetzt ist, mit Problemen der Migration, Geschlechtergerechtigkeit, Rechten Frauen und der Verwendung des Begriffs "Frauen" (mit Anführungszeichen) überhaupt – doch es gibt keineswegs nur neue Themen. Barbara Thiessen bezieht sich in ihrem Text über das "trügerische Emanzipationsideal" auf einen Beitrag von Marina Moeller-Gambaroff aus dem ersten Frauen-Kursbuch, und untersucht, ob und wie sich die Rolle von Frauen in der Familienarbeit seit 1977 verändert hat. Tatsächlich obliegt die Pflege von Kindern oder alten Menschen nach wie vor meist Frauen, trotz durchaus zu beobachtender Veränderungen ("die neuen Väter"). Stichworte wie Gender-Paygap und Care-System verweisen auf die Aktualität des Themas und die dennoch weiterhin bestehende "Ambivalenz zwischen Autonomie und Angewiesenheit". Mit Karin Reschke ist eine Originalautorin des ersten Frauen-Kursbuchs an Bord: Sie kommentiert und ergänzt ihren Text "Power Frauen" von 1977 selbst.
Um (religiöse / ethnische) Identität geht es in den Texten von Widad Nabi und Shila Meyer-Behjat, Fragestellungen, die "das Fremde" behandeln, und doch unmissverständlich zum Frauenalltag hierzulande gehören (sollten).
Sehr erhellend auch Gertrud Lehnerts Artikel "Der kleine Unterschied", der erklärt, wie Mode ab dem Ende des 18. Jahrhunderts zur frivolen Sache der Frauen gemacht wurde – davor maßen Männer der Mode sehr wohl große Bedeutung zu. Bis heute wirkt nach, dass modische Kleidung als verwerflich und lächerlich gilt – und unauffällige oder gar nachlässige Bekleidung als rational ( = männlich). Spiegel-Online-Kolumnistin und Buchautorin Margarete Stokowski schreibt über ihr "Leben als feministische Kolumnistin", räumt dabei mit zahlreichen Begriffsverwirrungen auf und entlarvt mit ihrer wie beiläufigen Bemerkung, sie habe noch nie davon gehört, dass einem männlichen Kolumnisten geraten wurde, er müsse doch nur mal wieder richtig durchgevögelt werden, den alltäglichen und widerwärtigen Sexismus, der auch in angeblich intellektuellen Magazinen gang und gäbe ist.
AVIVA-Fazit: Offensichtlich ist auch heute – im sogenannten postfeministischen Zeitalter – ein Kursbuch Frauen notwendig. Ob mit oder ohne Anführungszeichen sind die Lebensrealitäten von Männern und Frauen längst nicht gleich(berechtigt), Themen und Fragestellungen nicht allgemeingültig. Schaut frau/man sich die letzten Ausgaben des inzwischen in der Kursbuch Kulturstiftung erscheinenden, von zwei Männern (Peter Felixberger und Armin Nassehi) herausgegebenen Kursbuchs an, bleibt ein schaler Beigeschmack: Zu allen Themenstellungen schreiben fast ausschließlich männliche Autoren, pro Kursbuch höchstens ein bis zwei Autorinnen. So behalten "die Frauen" ihren Außenseiterinnenstatus als "die anderen", der durch ein Kursbuch mit ausschließlich weiblichen Autorinnen noch gestärkt wird.
P.S.: 1997 erschien das Kursbuch 127 Männer – ob es auch davon eine aktuelle Ausgabe geben wird?
Kursbuch 192: Frauen II
Herausgegeben von Peter Felixberger, Armin Nassehi
Kursbuch Kulturstiftung, erschienen Dezember 2017
Klappenbroschur,184 Seiten
ISBN 978-3-96196-000-2
19,00 Euro
www.kursbuch.online
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