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Beitrag vom 17.02.2018
Jesmyn Ward – Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt
Bärbel Gerdes
Mississippi in einem winzigen Kaff: Eine drogensüchtige Frau packt ihre beiden Kinder und er-fährt die Geschichte der Schwarzen in den Südstaaten. Jesmyn Wards Roman ist ein gewaltiges Buch über Armut und Rassismus, das den National Book Award mehr als verdient hat.
Es gibt Bücher, die kommen mit solch einer Wucht daher, mit solch einer Intensität, dass sie kaum erträglich sind – und uns doch weitertragen.
Der neue Roman der Afro-Amerikanerin Jesmyn Ward ist solch einer.
Die 1977 in DeLisle, Mississippi, geborene Schriftstellerin gewann mit ihm zum zweiten Mal den National Book Award, der neben dem Pulitzer Preis einer der renommiertesten Literaturpreise der USA ist. Zum ersten Mal bekam sie ihn für ihren Roman "Salvage the Bones" (2011, dt.: "Vor dem Sturm" (2013), der von den zehn Tagen vor einem aufkommenden Sturm erzählt. Ein kleines küstennahes Dorf in Mississippi, eine verarmte Familie, die um ihr alltägliches Überleben kämpft, eine Gesellschaft, die von Rassismus geprägt ist, wozu keine einzige weiße Person in diesem Buch auftreten muss.
Ward hat diesen Rassismus selbst erlebt: als einzige schwarze Schülerin unter Weißen wurde sie gemobbt, der kleine Ort, in dem sie aufwuchs, war geprägt von Rassismus und Ausgrenzung.
Sie selbst versteht sich denn auch als Pessimistin. In einem Interview mit dem Guardian begründet sie dies mit der Tatsache, dass so Vieles im Leben Schmerz und Sorgen sei, absichtliche Ignoranz und Gewalt, und dass es ermüdend sei, dagegen anzukämpfen.
Von diesem Leben berichtet auch ihr neuer Roman. Leonie, 30jährige Mutter, drogensüchtig, wohnt bei ihren Eltern und kümmert sich kaum um ihre beiden Kinder Jojo, 15, der die Tiere verstehen kann, und die dreijährige Kayla. Michael, ihr weißhäutiger Partner, dessen Cousin Leonies Bruder ermordet hat, sitzt im Knast, im berüchtigten Parchman. Er soll entlassen werden und Leonie ist fest entschlossen, ihn mit den Kindern und einer Freundin abzuholen. Ihr Vater ist strikt dagegen, die Kinder mitzunehmen, doch Leonie fährt.
Viele mächtige Leute würden zurzeit die Vergangenheit und die Gegenwart umschreiben, damit sie ihrem Narrativ entsprechen, sagt Ward. Sie setzt dem in einer Art Road Movie eine Südstaatengeschichte entgegen, die von den Sklaven, der Ausbeutung Schwarzer Menschen, dem alltäglichen Rassismus heute, aber auch von der wunderbaren Kraft der Göttinnen und Geister erzählt. Die Fahrt hinaus zum Gefängnis wird zum Höllentrip. Kayla wird krank, was der Mutter ziemlich egal ist. Mit sinnlicher Eindringlichkeit nimmt uns Ward mit auf die Rückbank, wo das kleine Mädchen sich ständig übergibt, was Leonies Freundin fürchterlich aufregt – wegen des Gestanks. Wir werden Zeugin davon, wie rührend Jojo sich um seine Schwester kümmert, wie sehr sie aneinander hängen, sich in ihrer Liebe Halt geben.
Abwechselnd erzählen Mutter und Sohn von dieser Fahrt. Diese beiden Stimmen machen diese Geschichte so eindringlich, denn trotz aller Ignoranz, Gewalttätigkeit, Gleichgültigkeit, ist die Verzweiflung Leonies spürbar und verstehbar.
Hinzu kommt die Stimme Richies, eines kleinen Jungens, der einst mit Jojos Großvater ebenfalls in Parchman inhaftiert war – Richie, der nur für Jojo sichtbar ist, so wie der tote Bruder Leonies nur für sie.
Jesmyn Ward, die 2005 ihren Master of Fine Arts in Creative Writing abschloss, kehrte nach Mississippi zurück und erlebte dort den großen Sturm Katrina, der die Menschen und die Landschaft zerstörte. Und sie erlebte den Umgang damit, das große Versagen und die große Gleichgültigkeit des amerikanischen Staates. Diese Wut, die Kraft, diese Macht spiegelt sich in ihrer Sprache, die von Ulrike Becker hervorragend ins Deutsche übertragen wurde. Gleichzeitig gibt es einen lyrischen Unterton, der ein wenig Optimismus aufscheinen lässt.
Ob es ihr in der gegenwärtigen politischen Atmosphäre schwerer fiele zu schreiben, wird Ward gefragt.
Unser gegenwärtiger Horror habe sie noch nicht zum Schweigen gebracht, entgegnet sie. Sie wüsste auch nicht, ob er es schaffen würde. Die politische Lage mache sie wütender und dies triebe sie an ihren Schreibtisch, ihren Computer, zu ihren Büchern.
Große Literatur!
AVIVA-Tipp: Eindringlich und sprachmächtig kommt Jesmyn Wards Roman daher, unglaublich spannend, berührend und politisch.
Zur Autorin: Jesmyn Ward, 1977 in DeLisle, Mississippi, geboren, studierte Creative Writing an der University of Michigan. 2005 kehrte sie mit ihrer Familie nach Mississippi zurück und erlebte dort den Sturm Katrina. 2008 erschien ihr erster Roman Where the Line Bleeds. Salvage the Bones folgte 2011 (dt. u.d.T. Vor dem Sturm, 2013). Hierfür erhielt sie den National Book Award. Ihr Buch Men we Reaped erschien 2013 und beschreibt das Schicksal von vier jugendlichen Schwarzen, die in ihrem Heimatort ihr Leben verloren, darunter auch ihr Bruder. 2017 wurde ihr eine MacArthur Fellowship zugesprochen. Für ihren Roman Sing, Unburied, Sing (2017) (dt. u.d.T. "Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt", 2018) erhielt sie ebenfalls den National Book Award. Jesmyn Ward ist stellvertretende Professorin für Kreatives Schreiben an der University of South Alabama.
Mehr zu Jesmyn Ward auf ihrem Blog: jesmimi.blogspot.de
Zur Übersetzerin: Ulrike Becker, 1959 in Thuine, Niedersachsen geboren, ist seit 1989 als literarische Übersetzerin tätig. Zuvor studierte sie Amerikanistik und Theaterwissenschaften. Unter den von ihr übersetzten Autor_innen befinden sich Tim Parks, Julia Rothman und Barbara Gowdy. Sie lebt in Berlin und Lingen (Ems) und ist auch als Kulturveranstalterin tätig.
Jesmyn Ward
Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt
Originaltitel: Sing, Unburied, Sing, 2017
Aus dem Englischen von Ulrike Becker
Antje Kunstmann Verlag, erschienen Februar 2018
Hardcover, 304 Seiten
22,00 Euro
ISBN: 978-3-95614-224-6
Mehr zum Buch unter: www.kunstmann.de
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