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Beitrag vom 22.02.2018
Elena Ferrante - Die Geschichte des verlorenen Kindes
Doris Hermanns
Der vierte und letzte Band der Neapolitanischen Saga ("Meine geniale Freundin", "Die Geschichte der getrennten Wege" und "Die Geschichte eines neuen Namens") ist das große Finale der Tetralogie, in dem aber nicht alle Fragen geklärt werden.
Es war nicht zu erwarten, dass Elena, die Erzählerin der Neapolitanischen Saga, wieder in ihre Heimatstadt Neapel zurückkehren würde. Aber in Florenz, wo sie mit ihrem Ehemann lebt, von dem sie sich wegen ihrer Jungendliebe Nino getrennt hat, kann sie mit ihren beiden Töchtern nicht bleiben. Sie zieht zurück nach Neapel, das für sie vorläufig nur Nino bedeutet, mit dem sie ein gemeinsames Leben aufbauen will, aber meidet vorläufig noch den Rione und ihr altes Leben, so auch Lila. Zu sehr genießt sie das Zusammensein, das Reisen, das Überschreiten von Grenzen als gefragte Schriftstellerin.
Aber schnell werden Probleme deutlich: Zum einen mit ihren Töchtern, die dort nicht leben wollen, und die sie immer wieder während ihrer Lesereisen bei anderen unterbringen muss. Und zum anderen auch mit Nino. Die Beziehung entwickelt sich keineswegs so, wie Elena es sich erhofft hatte. Wo sie davon ausgegangen ist, dass sie sich beide von ihren EhepartnerInnen trennen würden, bleibt er bei seiner Frau und behauptet, die Beziehung zu Elena nur so leben zu können. Diese weiß an sich schon bald, dass sie sich trennen sollte, aber braucht noch längere Zeit und eine unerwartete Begegnung, bis ihre Liebe in Hass umschlägt.
Da sie zu dieser Zeit an einem Roman arbeitet, der in der Rione spielt, zieht sie dorthin zurück, in eine Wohnung im gleichen Haus wie Lila. Die beiden Freundinnen nähern sich wieder an, vor allem als sie zeitgleich schwanger werden, "(…) wir wurden wieder zu Kindern. Es gefiel uns sehr, so nebeneinanderzusitzen, ich blond, sie dunkel, ich ruhig, sie nervös, ich nett, sie boshaft, und wir beide gegensätzlich und einträchtig, wir beide weit weg von den andern Schwangeren, die wir mit Spott betrachteten."
Eine Zeitlang scheint alles gut zu gehen. Elena lässt sich wieder von Lila, die sich mit einem Computerbetrieb selbständig gemacht hat, anregen: "Für gewöhnlich genügte mir ein Halbsatz von Lila, und schon wurde mein Gehirn inspiriert, kam in Gang und setzte meine Intelligenz frei." Die beiden Frauen erziehen ihre Kinder mehr oder weniger gemeinsam, wie Lila sagt, haben sie zwei Mütter. Der Verlag findet ihr Buch einzigartig und Elena gewinnt ihr Selbstbewusstsein wieder zurück, das nach ihrer Trennung verloren schien. Doch plötzlich wird alles anders und es überhäufen sich die Geschehnisse: Die gemeinsame Freundin Carmen zeigt Elena an, wozu sie, wie sich später herausstellt, gezwungen wurde, und Lilas Tochter verschwindet. Von einem Moment auf den anderen war sie weg und es gibt kein Lebenszeichen und keine Spur mehr von ihr. Was genau geschah, lässt sich nur aus dem weiteren Verlauf des Romans erahnen. Es ist eine der beiden Erschütterungen Lilas in dieser Lebensphase, die andere ist ein reales Erdbeben, wie Enzo, der Vater der verschwunden Tochter sagt: "Wenn ein Kind verschwindet, wenn man nichts mehr von ihm hört, dann bleibt in deinem Leben nichts mehr auf seinem Platz." Aber so wie ihre Tochter verschwindet auch die Mutter letztendlich, was seit Beginn der Tetralogie deutlich war, war es doch der Anlass für die Erzählerin, diesen Roman zu schreiben. Vom Bedürfnis Lilas zu verschwinden, sich förmlich in Luft aufzulösen ist dann auch immer wieder die Rede.
Letztendlich verlässt Elena den Rione, wenn auch erst einige Jahre später als geplant. Sie geht nach Turin, wo sie einen Verlag leitet. Ihre beiden ältesten Töchter ziehen in die USA, die jüngere nach Paris. Sie hat das Gefühl, es geschafft zu haben und sich und ihre Töchter in Sicherheit gebracht zu haben. Aber mit zunehmendem Alter und sinkenden Auflagezahlen beginnt Elena an sich zu zweifeln und gerät in eine Depression. Mit Lila hält sie noch losen Kontakt, bis sie ihr Versprechen bricht, nie ein Buch über deren Tochter zu schreiben. Das Buch wird ein Erfolg, aber es bedeutete auch das Ende ihrer Freundschaft. Nie wieder hört Elena von Lila.
Kurz vor Ende baut die Autorin leider etwas viel Geschichte der Stadt Neapel in den Roman ein, was an dieser Stelle überflüssig ist. Aber dann wartet sie noch einmal mit einer überraschenden Wendung auf.
Es ist wieder ein sehr gelungener Band der Neapolitanischen Saga, die wiederum auch ein Zeitbild der italienischen Geschichte ist. Viel Historisches wird ganz nebenbei verarbeitet, wie z. B. das Aufkommen der Informatik und die Entwicklung der Computer bis hin zu den Anschlägen am 11. September 2001 in New York. Dass Ferrante dabei großartige Figuren skizziert, die immer wieder vieles in Frage stellen, ist bereits aus den vorigen Bänden bekannt.
Bedeutsam für diese Tetralogie ist vor allem, dass im Wesentlichen die beiden Frauen im Mittelpunkt stehen, dass ihre Freundschaft letztendlich wichtiger ist, als die vorübergehenden Beziehungen, Ehen und Liebschaften. Und Elena kommt zu dem Schluss: "Auf jeden Fall waren die Zeiten von Treue und festen Lebensgemeinschaften für Männer wie für Frauen vorbei." Aber es geht auch um Fragen der Mutterschaft, sowohl um Elenas Bezug zu ihrer Mutter als auch zu ihren Töchtern, sowie der Frage, wie sich Lohnarbeit mit Mutterschaft verbinden lässt, aber auch um Leben im Alter. Ferrante bietet keine Lösungen an, sondern wirft immer wieder Fragen auf, die sie durchaus teilweise unbeantwortet lässt.
AVIVA-Tipp: Das Ende der großartigen Neapolitanischen Saga, das dazu einlädt, mit dem Lesen gleich wieder von vorne anzufangen. Selten hat die Freundschaft zwischen zwei Frauen so sehr im Vordergrund eines Romans gestanden. Zudem ist Ferrante eine großartige Erzählerin, die die Spannung auch über mehr als 2.000 Seiten zu halten weiß. Auch wenn diese Saga nun vollständig vorliegt: Ferrante Fans können sich darauf freuen, dass Anfang Juni ein neues Buch von ihr erscheinen wird: "Frantumaglia – Mein geschriebenes Leben".
Zur Autorin: Elena Ferrante ist die große Unbekannte der Gegenwartsliteratur. In Neapel geboren, hat sie sich mit dem Erscheinen ihres Debütromans im Jahre 1992 für die Anonymität entschieden. Die Geschichte der getrennten Wege ist der dritte Band der Neapolitanischen Saga. Der erste war Meine geniale Freundin, der zweite Die Geschichte eines neuen Namens. Die Geschichte des verlorenen Kindes ist der vierte und letzte Band. Im Juni 2018 erscheint die Übersetzung von Frantumaglia. Mein geschriebenes Leben, im August ihr Roman Tage des Verlassenwerdens, im Oktober 2018 soll ihr Roman Frau im Dunkeln in neuer Übersetzung wieder erscheinen.
Mehr Infos zu Elena Ferrante unter: www.elenaferrante.de
Zur Übersetzerin: Karin Krieger, geboren 1958 in Berlin, übersetzt vorwiegend aus dem Italienischen und Französischen, darunter Bücher von Claudio Magris, Anna Banti, Armando Massarenti, Margaret Mazzantini, Ugo Riccarelli, Andrea Camilleri, Alessandro Baricco und Giorgio Fontana. Sie war mehrfach Stipendiatin des Deutschen Übersetzerfonds und erhielt 2011 den Hieronymusring.
Elena Ferrante
Die Geschichte des verlorenen Kindes
Band 4 der neapolitanischen Saga: Reife und Alter
Originaltitel: Storia della bambina perduta
Aus dem Italienischen von Karin Krieger
Suhrkamp Verlag, erschienen am 2. Februar 2018
Gebunden mit Umschlag. 614 Seiten
ISBN 978-3-518-42576-3
Euro 25,00
Zum Buch: www.suhrkamp.de
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Das #Ferrantefever geht weiter: Im dritten Band der Neapolitanischen Saga ("Meine geniale Freundin" und "Die Geschichte eines neuen Namens") erzählt die Autorin, wie sich die Freundschaft der beiden erwachsenen Frauen trotz Entfernungen weiterentwickelt. (2017)
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