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Beitrag vom 01.05.2018
Thomas Sparr. Grunewald im Orient. Das deutsch-jüdische Jerusalem
Magdalena Herzog
Rechavia. Ein kleiner Stadtteil in Jerusalem, in dem sich vor allem deutsche Juden und Jüdinnen aus Berlin ab den 1920er Jahren ansiedelten und das fortführten, was sie in Deutschland nicht mehr wollten und später nicht mehr durften. In dem neuen Viertel entstand...
... durch ihre Bewohner_innen eine Dichte an intellektuellem und avangardistischem Austausch, der die Kultur Israels und weit darüber hinaus entscheidend bis heute prägte.
Das himmlische Reachavia
Geistesgrößen des 20. Jahrhunderts treffen sich in Jerusalem zu Tee und Kaffee, sie sehnen sich zurück nach Europa und genießen gleichzeitig ihre neue Heimat, Eretz Israel, mit all den damit verbundenen Hoffnungen und Visionen einer sicheren jüdischen Heimat. Die Jecketes verknüpfen deutsche Tugenden und ihre deutsche Bildung mit der der jüdischen Geschichte und der hebräischen Sprache und bringen so die engen Verbindungen von Europa und Orient zum Vorschein und kreieren damit eine neue Kultur: die israelische, deren einzigarties Merkmal unter vielen anderen das Zusammenkommen eurpäischer und orientalischer Geschichte, Kultur und Tradition ist. Wüssten wir nicht, dass dies alles einmal tatsächlich stattgefunden hat, hielten wird es für eine nostalgische Verklärung der Geschichte deutscher Juden und Jüdinnen in Israel.
Doch genau so lässt sich das Leben in Rechavia beschreiben, in dem Viertel, das in den 1920er Jahren von dem aus Frankfurt am Main stammenden Architekten Richard Kauffmann entworfen wurde. Die Häuser – vor allem im Bauhausstil und aus dem typisch sandfarbenen Jerusalemer Stein erbaut – waren geziert mit gepflegten Vorgärten, die durch das Klima und die Wasserknappheit einen besonderen Eindruck einer Gartenstadt vermittelten und geradezu "Dahlemisch" anmuteten. Ihre Bewohner_innen und täglichen Besucher_innen hießen Lotte Cohn, Lea Goldberg, Gershom Scholem, Shmuel Bergmann, Jeuhuda Amichai, später auch Hannah Arendt und Mascha Kaléko – um hier nur einige zu nennen. Die Straßennamen erinnern heute noch an die Gelehrten des Mittelalters wie Ramban und Abarbanel und an die ersten Hausbesitzer_innen des Viertels: gebildete orientalische Juden und Jüdinnen. Else Lasker-Schüler erschien Jerusalem und Rechavia während ihrer ersten Reise nach Palästina im Jahr 1934 gar als etwas, bei dem Irdisch und Himmlisch nicht mehr zu trennen seien, die Gärten gar dem Garten Eden gleichkämen.
Und auch der israelische Literaturnobelpreisträger Samuel Joseph Agnon schrieb in seinem Roman "Schira" über die spezielle Atmosphäre der Abende in Rechavia: "Die Bäume in der Maimonallee und die Männer und Frauen auf der Gasse hüllten sich in eine Art Geheimnis und wußten es selber nicht."
Das "Jeckeland"
Thomas Sparr hat diesem Leben in Rechavia, seinen Bewohner_innen, ihren Ideen, Diskussionen, ihrem Miteinander, ihrem alltäglichen Leben, ihrer Faszination ihres neuen Daseins in Jerusalem und der Entwicklung dieses Viertel zum Zentrum des geistigen Lebens Israels ein Buch gewidmet. Es trägt die deutliche Handschrift eines faszinierten und begeisterten Wandlers und Bewohners dieser Stadt, der sich mit Hingabe der Geschichte ihrer Bewohner_innen widmet. Anhand ausgewählter Orte wie dem Café Atar, in dem sich die Jeckes trafen und deutsche Speisen bestellten, führt er die Eigenheiten des damaligen Lebens und seiner Bewohner_innen aus. Denn deren deutscher Hintergrund schlug sich deutlich nieder: Nicht nur waren die Kinder in der Schule teils Ziel des Gespötts, weil sie Deutsch statt wie ein_e in Palästina geborene_r Sabre Hebräisch zu sprachen, sondern auch, weil die Verhaltens- und Umgangsweisen ausgesucht höflich und wohl etwas streng gemäß deutscher Manieren blieben. So wurde Rechavia auch als "preußische Insel im Meer des Orients" beschrieben. Diese Mischung intellektuellen Tiefgangs bei gleichzeitiger post-wilhelminischer Verklemmtheit mutet bizarr wie charmant an, und der Autor arbeitet genau diese Spannbreite heraus, denn prägten sie damit doch auch das spätere Israel stark. Die meisten Bewohner_innen waren an der Hebräischen Universität tätig – als Professor_innen, Angestellte und Student_innen und dort eignete sich diese Mischung wohl besonders gut.
Ein deutlicher Schwerpunkt liegt auf den ersten zehn bis fünfzehn Jahren der Entstehung dieses Viertels und seiner Atmosphäre. Sie muss eine ganz besondere gewesen sein: Ihre Bewohner_innen waren noch weitestgehend freiwillig aus rein zionistischen oder beruflichen Gründen nach Palästina gekommen, und sprühten vor Aufbruchsstimmung. Die politische Lage war in den 1920er Jahren schwierig: die Auseinandersetzungen mit den Engländern, das Land stand unter britischem Mandat, das Zusammenleben mit den Araber_innen und die vielen Einwander_innen aus unterschiedlichsten Ländern. Erschwert wurde die Situation jedoch deutlich durch den Nationalsozialismus und das Bewusstwerden der Geschehnisse in Deutschland und Europa, und den späteren Kriegen nach der Staatsgründung 1948 und nicht zuletzt durch die Belagerung der Stadt.
Lotte Cohn
Doch zurück in die 1920er Jahre und zu den Angestellten der Hebräischen Universität. Eine, die zwar nicht dort angestellt war, sich aber in deren Dunstkreis bewegte, war die Architektin Lotte Cohn. Sie wanderte 1921 nach Palästina als begeisterte Zionistin ein, nachdem sie eine Anstellung bei Richard Kauffmann erhalten hatte, also bei demjenigen Architekten, der Rechavia konzipiert hatte. Sie lebte bis 1929 in Jerusalem und wurde zur Chronistin ihrer Zeit: Von Anfang an war sie fasziniert von dieser Stadt und von den neu eingewanderten, vor allem jungen Menschen, die die Atmosphäre deutlich prägten. Ihr Schaffen als Architektin wurde von Cohns Biografin Ines Sonder als "Berufung" bezeichnet – nämlich diejenige, "Baumeisterin des Landes Israel" zu werden. Und sie wurde es. Eine ihrer Schwestern, Helene Cohn, unterhielt eine Pension in Rechavia, die viele viele Besucher_innen aus aller Welt beherbergte.
AVIVA-Tipp: Neben Lotte Cohn widmet sich Thomas Sparr in leicht erzähltem Duktus vielen anderen ausgewählten Persönlichkeiten und teils auch intellektuellen Kontroversen wie der zwischen Gershom Scholem und Hannah Arendt rund um den Eichmann-Prozess 1961. Eine der interessantesten ist wohl diejenige Mascha Kalékos, die sich in dem Viertel niemals wohlfühlte, denn, so dichtete sie "Mein Heimweh hieß Savignyplatz". Sparr gelingt es, die komplexen Verwobenheiten der Geschichte Pästinas/Israels mit der der Shoah, den persönlichen Biografien und den geistig-intellektuellen Fragen der Protagonist_innen zu verbinden. Zu empfehlen es ist allen Leser_innen, die kaum etwas über Israel und Jerusalem wissen, denn bindet der Autor alle notwendigen Hintergrundinterformationen ein. Alle Kenner_innen können sich ganz auf das intellektuelle Schaffen und die persönlichen Eigenheiten der Bewohner_innen Rechavias konzentrieren und nostalgisch schwelgen.
Zu guter Letzt besticht das Buch durch die Aufmachung: ein schöner Einband, Übersichtskarte Rechavias zu Beginn und Bilder der berühmten Bewohner_innen. Allen Leser_innen ist viel Vergnügen zu wünschen!
Zum Autor: Thomas Sparr war nach dem Studium der Literaturwissenschaft und Philosophie in Hamburg, Marburg und Paris von 1986 bis 1989 an der Hebräischen Universität in Jerusalem und am dortigen Leo Baeck Institut tätig. Von 1990 bis 1998 leitete er den Jüdischen Verlag, war von 1999 bis 2004 Cheflektor des Siedler Verlags. Er lebt heute in Berlin und arbeitet als Editor-at-Large für den Suhrkamp Verlag. (Quelle: Verlag)
Thomas Sparr. Grunewald im Orient. Das deutsch-jüdische Jerusalem
Berenberg Verlag, erschienen Dezember 2017
Hardcover, 200 Seiten, bebildert
Preis: 22 Euro
ISBN: 978-3-946334-32-3
Mehr zum Buch sowie Lesungstermine unter: www.berenberg-verlag.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Lotte Cohn. Eine schreibende Architektin in Israel. Bd. 1: Ausgewählte Schriften (1934–1982) und Bd. 2: Ausgewählte Briefe (1921–1982) Herausgegeben von Dr. Ines Sonder
Ein Tagebuch hat die deutsch-israelische Architektin und Stadtplanerin Lotte Cohn nicht geführt, dafür aber unzählige Briefe, Nachrufe, Schriften, Pläne und Skizzen hinterlassen. Aus diesem Konvolut hat die Kunsthistorikerin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien an der Universität in Potsdam mit dem Forschungsschwerpunkt Architektur- und Kulturgeschichte Israels, Dr. Ines Sonder, diese sorgfältig editiert, deren Werk kuratiert, und damit in Ausstellungen und Publikationen zugänglich gemacht. Erschienen im Neofelis Verlag in der Reihe Jüdische Kulturgeschichte in der Moderne. (2018)
Lea Goldberg. Verluste - Antonia gewidmet
Ein Roman, der 1935 in Palästina von der Dichterin und Literaturkritikerin Lea Goldberg auf Hebräisch verfasst wurde, entdeckt nun das Licht der literarischen Welt in Deutschland. Diese wird bereichert um ein Werk, das im Berlin der Jahre 1932 bis 1933 spielt und sich sprachlich aus der Moderne und aus den religiösen Texten des Judentums speist. Gekrönt ist dieses Werk durch die herausragende Arbeit der Übersetzerin Gundula Schiffer. (2016)
Hannah Arendt - Wahrheit gibt es nur zu zweien. Briefe an die Freunde. Hrsg. von Ingeborg Nordmann
Freundschaften waren Hannah Arendt Zeit ihres Lebens wichtig. Sie ermöglichten das Heimisch-Sein in der Emigration und das Willkommen-Sein in Deutschland. Dieser Briefband zeugt davon. 1945 beschreibt Hannah Arendt in einem Brief sehr eindringlich, wie wichtig Freundschaften in der Emigration sind. (2014)
Ines Sonder - Lotte Cohn. Baumeisterin des Landes Israel
Lotte Cohn war in mehr als einer Hinsicht Pionierin. Sie war nicht nur eine der ersten Architekturabsolventinnen in Deutschland überhaupt, sie war auch die erste graduierte Architektin im Land Israel, zählte zu den ersten deutschen EinwanderInnen der dritten Alija in Palästina und zu den ersten, die 1925 die palästinensische Staatbürgerschaft annahmen. (2010)
Hannah Arendt und Gershom Scholem - Der Briefwechsel
Sie hätten kaum unterschiedlicher sein können, die Heidegger-Schülerin Hannah Arendt und der Kabbala-Gelehrte Gershom Scholem. Und doch verband sie eine Freundschaft über mehr als zwanzig Jahre. (2010)