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Beitrag vom 17.05.2018
Verena Boos - Kirchberg
Helga Egetenmeier
Jedes Jahr am 10. Mai wird mit dem "Tag gegen den Schlaganfall" an eine Krankheit erinnert, der die mehrfach ausgezeichnete Schriftstellerin, Historikerin und freie Redakteurin Verena Boos ("Blutorangen") ihren zweiten Roman gewidmet hat. Anhand des Bruchs in der Lebensplanung der Wissenschaftlerin Hanna erzählt sie einfühlsam und schnörkellos...
... deren Geschichte zwischen Stadt und Dorf, Geburt und Tod.
Nach ihrem historisch gewichtigen Erstling "Blutorangen", in dem sie sich anhand einer verzweigten Familiengeschichte mit dem Nationalsozialismus und dem faschistischen Spanien auseinandersetzte, begibt sich Verena Boos nun in das komplexe Gefüge von Familien- und Freundschaftsbeziehungen in Deutschland. Dabei lässt sie den aktuellen politischen Aspekt im Hintergrund und begrenzt sich auf einige historische Details zum Hintergrund ihrer Figuren. So haben sich Hannas Großeltern als Paar gefunden, da die Mutter ihres zukünftigen Großvaters während des 2. Weltkriegs als Kriegsflüchtling bei ihren Urgroßeltern einquartiert war und als der Sohn aus der englischen Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, verliebten sich die beiden. Doch weiter führt sie die Zeit des Nationalsozialismus nicht aus.
Im Fokus steht die schwierige Gegenwart der durch ihre aktuell diagnostizierte Krankheit eingeschränkten Hanna. Nach ihrem erfolgreichen Leben als Wissenschaftlerin(Beruf? - genauer wird der Beruf nicht benannt) zwischen Berlin, London und New York zieht es sie, gerade aus dem Krankenhaus entlassen, zurück in das kleine Dorf in Süddeutschland, in deim sie ihre Kindheit und Jugend verbrachte.
Hanna´s Leben mit der Erkrankung
Wie Verena Boos entlang der Biografie ihrer Protagonistin einfühlsam nachvollzieht, verändert ein Gehirnschlag das vorher geführte Leben entscheidend. Hanna hat bis zu ihrer Krankheit in der Wissenschaft Karriere gemacht. Eigentlich sollte es beruflich mit einem Stipendium für Harvard weiter aufwärts gehen. Doch plötzlich ist sie ihrer ganzen geplanten Zukunft, wie auch der teilweisen Kontrolle über ihren Körper, beraubt.
Nach dem Schlaganfall mit einhergehender Aphasie - dem Verlust der Sprache - flieht Hanna aus dem hektischen Berlin. In dem alten, auf dem Kirchberg eines kleinen Dorfes stehenden Haus ihrer verstorbenen Großeltern hofft sie einen ruhigen Rückzugsort zu finden. Klar und flüssig beschreibt die Autorin die unruhige Gefühlswelt ihrer Protagonistin und ergänzt deren von der Krankheit bestimmte Gegenwart durch Erzählungen aus ihrem vergangenen Leben.
Verena Boos hat ihre Hauptfigur als eine Frau entwickelt, die ihre Mutter kaum kennt, nicht weiß wer ihr Vater ist, und durch die Großeltern liebevolle Ersatzeltern fand. Heute ist Hanna kinderlose Single und befindet sich auch sonst in keinem Familienzusammenhang, der ihr bei der Krankheit Unterstützung anbieten könnte. Und so flieht Hanna auch deshalb aus Berlin, um ihrer besten Freundin und Mitbewohnerin ihre neue Bedürftigkeit nicht zuzumuten.
Die Krankheit Schlaganfall
Von den 270.000 jährlichen Schlaganfallpatient*innen in Deutschland sind 55 % Frauen und 80 % über 60 Jahre alt. Im Jahr nach dem Schlaganfall versterben bis zu 40 %, von den Überlebenden bleiben 64 % pflegebedürftig. Aphasie, der "Verlust der Sprache", eine durch Krankheit hervorgerufene Sprachstörung, wird hauptsächlich durch einen Schlaganfall verursacht. Sie hat nichts mit geistiger oder psychischer Störung zu tun, jedoch leiden die Betroffenen sehr an dem Verlust und der Störung der Sprache, wie auch an den Begleitsymptomen: Einschränkung der Motorik und Lähmungserscheinungen.
In den westlichen Industrieländern ist der Schlaganfall die dritthäufigste Todesursache und die häufigste Ursache für eine im Erwachsenenalter erworbene Behinderung. Da sich durch Prävention 70 % der Schlaganfälle verhindern lassen würden, kann in diesem Sinne Verena Boos Roman als Motivation gelesen werden, sich selbst und andere zu ermutigen, aufmerksam zu sein und rechtzeitig auf entsprechende Symptome zu achten. Gleichzeitig entwickelt die Autorin eine Vorstellung von den Auswirkungen eines Schlaganfalls, die Freund*innen ermutigt, Betroffene weiterhin in das tägliche Leben einzubinden.
Das Dorf als Ort zwischen Kontrolle und Solidarität
"Ist alles in Ordnung mit dir? Hannas Hand wandert instinktiv an ihren Kopf. Hat´s dir die Sprache verschlagen? So könnte man es nennen. Du warst doch sonst nicht aufs Maul gefallen. Hanna nickt zu beidem."
Wie Juli Zeh in "Unterleuten" nutzt auch Verena Boos die Gegenüberstellung vom Leben in der Stadt und im Dorf als vordergründiges Spiegelbild von Anonymität und Verbundenheit. Doch wie in "Unterleuten" wird auch in "Kirchberg" diese Trennung in ihrer Schlichtheit nicht aufrechterhalten. So trifft Hanna dort, neben denen, die schon ihr ganzes Leben im Ort wohnen, auf die toughe und hilfsbereite Aussteigerin Daphne. Auch ihre damals ebenfalls aus dem Dorf geflüchtete Jugendliebe Patrizio kehrt zurück, um sich eine kreative Auszeit zu gönnen. So entwickelt sich das Dorf zu einem Bereich, der nicht mehr nur durch konservative Spießigkeit geprägt ist, sondern sich der Stadt und ihren Bewohner*innen gegenüber als Zufluchtsort vor einer hektischen Lebensweise anbietet.
Verena Boos baut ihre Figuren in diesen Zwiespalt zwischen dem städtischen und dörflichen Leben ein. Jede*r hat einen persönlichen Grund für den temporär oder auf Dauer gewählten Lebensort. Am weitesten auseinander liegen Hannas Mutter, die für immer aus der Enge des Dorfs geflüchtet ist und ihre Großmutter, die nie einen anderen Ort ihr Zuhause nannte. Durch eingestreute Dialektwörter und zurückhaltend beschriebene Emotionen entwickelt die Autorin eine zu dieser Erzählung passende Sprache, die Distanz und Wärme gleichzeitig ausdrückt.
AVIVA-Tipp: Verena Boos gelingt es ausgezeichnet, die Krankheit Schlaganfall in Worte und eine umfassende Geschichte zu bringen, die deren Auswirkungen rational und emotional nachvollziehbar machen. Dazu erzählt sie in ihrem klaren Schreibstil einfühlsam von einem zerbrochenen Lebenstraum und einem neuen, durch die Krankheit diktierten Lebensplan, der Solidarität und Freundschaft in den Mittelpunkt stellt.
Zur Autorin: Verena Boos, geboren 1977 in Rottweil, wuchs auf zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb, studierte Anglistik und Soziologie, promovierte in Zeitgeschichte und hatte mehrjährige Aufenthalte in Italien, Großbritannien und Spanien. Sie nahm am Klagenfurter Literaturkreis teil, wie auch der Schreibwerkstatt der Jürgen Ponto-Stiftung, wurde für die Bayerische Akademie des Schreibens ausgewählt (2012/2013 und 2016/2017) und war Finalistin beim Open Mike 2012. Für ihren Debütroman "Blutorangen" erhielt sie 2015 den Grimmelshausen-Förderpreis und den Debütpreis des Buddenbrookhauses, 2016 den Hamburger Mara-Cassens-Preis für das beste Debüt des Jahres und den Gerhard-Beier-Preis für ein literarisches Werk mit sozialpolitischem Bezug. Verena Boos lebt in Frankfurt und ist Mitglied der Frankfurt Memory Studies Platform, einem interdisziplinären und internationalen Konvergenzfeld, welches das Zusammenspiel von Gegenwart und Vergangenheit in soziokulturellen Kontexten erforscht und sich für das sozial geprägte individuelle Gedächtnis wie für das auf Interaktion und Kommunikation basierende kollektive Gedächtnis, interessiert. Sie arbeitet als Schriftstellerin, Historikerin, freie Redakteurin, Erinnerungsarbeiterin an den Nahtstellen von Literatur, Journalismus, Wissenschaft und praktischer Arbeit im Feld.
Die Autorin Verena Boos im Netz: www.verena-boos.de
Lesungstermine unter: verena-boos.de/termine
Kirchberg
Verena Boos
Aufbau Verlag, erschienen September 2017
Hardcover mit Schutzumschlag, gebunden mit Schutzumschlag, 366 Seiten
ISBN-13: 978-3351036906
22,-- Euro
Mehr Infos zum Buch unter: www.aufbauverlag.de
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Weitere Infos unter:
Webseite der Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe
Webseite des Bundesverbandes Aphasie e.V.