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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 12.06.2018


Edith Wharton - Die verborgene Leidenschaft der Lily Bart
Bärbel Gerdes

Edith Wharton gewann 1920 als erste Frau den Pulitzer Preis für The Age of Innocence und war dreimal für den Literaturnobelpreis nominiert. In ihrer glänzenden Gesellschaftssatire porträtiert die 1862 in New York City geborene amerikanische Schriftstellerin Edith Wharton die Upper Class zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Geld, Oberflächlichkeit und Intrigen bestimmen den Alltag jener, zu denen Lily Bart unbedingt gehören möchte. Doch zu welchem Preis?




"Ich selbst kenne eine Frau, die allein in ihrer Wohnung lebt." Diesen erstaunlichen Satz gibt der Anwalt Lawrence Selden zum Besten, als er mit der fast 30jährigen Lily Bart in seiner Wohnung ist – allein diese Tatsache schon unerhört.

Edith Wharton sprengt schon zu Beginn ihres 1905 erschienenen Romans The House of Mirth die Konventionen, in die sich die Protagonistin immer wieder verfängt.
Lily Bart kommt aus vermögendem Haus, doch nach dem plötzlichen Ruin ihrer Eltern und deren Tod kurz danach, wächst sie bei einer Tante, Mrs Peniston, auf. Lily strebt nach Reichtum und Luxus und weiß sehr genau, dass sie dies nur erreichen kann, wenn sie einen vermögenden Gatten findet.
Selden zieht sie an, ihn findet sie interessant – jedoch gehört er nicht zur Upper Class. So steht sie vor der Entscheidung einer langweiligen, aber vermögenden Ehe oder einem Absturz in eine andere gesellschaftliche Sphäre.

Edith Wharton selbst ist in einem aristokratischen Haushalt aufgewachsen, in dem es um gute Sitten und Konventionen ging. Sie wurde ausschließlich zu Hause erzogen und verbrachte viel Zeit in der väterlichen Bibliothek, da ihr der Unterricht durch Tutoren und Gouvernanten nicht genügte.
Schon als Kind begann sie zu schreiben. Bereits mit 15 schrieb sie erste Romane und Gedichte. Letztere wurden anonym in der Atlantic Monthly veröffentlicht, da es sich nach Meinung ihrer Eltern für eine Tochter aus höherem Haus nicht schickte, zu schreiben.

Mit 23 Jahren heiratete sie den 12 Jahre älteren Edward Robins Wharton, der ihrem Stand angehörte. Die beiden unternahmen zahlreiche Reisen nach Europa. 1913 wurde die Ehe geschieden und Wharton entschloss sich, nach Paris zu ziehen. Der Erste Weltkrieg veränderte ihr Leben grundlegend. Sie engagierte sich für arbeitslose Frauen, denen sie einen Arbeitsraum zur Verfügung stellte, ihnen täglich einen Franc zahlte und sie beköstigte. Die circa 60 Frauen entwickelten daraus eine Schneiderei.
Wharton half bei der Einrichtung amerikanischer Unterkünfte für Geflüchtete, als zahlreiche Belgier und Belgierinnen nach dem Einmarsch der Deutschen 1914 aus ihrem Land flohen. Sie schrieb Berichte von der Front und arbeitete bis zum Ende des Krieges für Obdachlose, Verletzte und Geflohene.
Zudem entstanden weitere Werke. 1915 gab sie The Book of the Homeless heraus, in dem Beiträge so bekannter Autoren wie Joseph Conrad und Jean Cocteau zu finden sind. Auch ihr enger Freund Henry James trug dazu bei.

Bekannt jedoch wurde Edith Wharton vor allem durch ihre satirischen und scharfzüngigen Romane, für die sie mit vielen Preisen geehrt wurde. 1920 gewann sie als erste Frau den Pulitzer Preis für The Age of Innocence und war dreimal für den Literaturnobelpreis nominiert.

Sehr genau analysiert Wharton in ihren Romanen die Situation der Frauen. "Wir müssen immer hübsch sein und gut angezogen, bis zum bitteren Ende – und wenn wir uns das allein nicht leisten können, müssen wir uns den geeigneten Partner suchen." Lily Bart ist all dies durchaus bewusst. Mit Verachtung beobachtet sie den Emporkömmling Rosedale, der nur wegen seines Geldes eingeladen wird und der auf der Suche nach einer geeigneten Frau ist. Das Muttersöhnchen Percy Gryce kommt eher in Frage. Er ist sterbenslangweilig, aber steinreich.
Lily Bart ist beliebt in den oberen Kreisen und ist auf vielen Gesellschaften ein gern gesehener Gast. Der Haken daran: all dies übersteigt ihre finanziellen Möglichkeiten. Sie ruiniert sich beim Bridge, wird das Opfer einer Intrige angeblicher FreundInnen – ihr Leben befindet sich im Sinkflug.
Mit großer Freude seziert Wharton diese intrigante und verlogene Welt.

Und die Alternative doch allein zu leben?

Auf Seldens Bemerkung, dass er eine Frau kenne, die allein in ihrer Wohnung lebe, lächelt Lily Bart nur verächtlich. "ihre Wohnung [ist] schrecklich und klein, und sie hat noch nicht einmal ein Dienstmädchen, und es gibt bei ihr nur seltsame Dinge zu essen. Ihre Köchin macht auch die Wäsche, also schmeckt das Essen nach Seife. Also, so etwas wäre nichts für mich."

Und weiter: "Sie war so eindeutig in der Gesellschaft gefangen, die sie hervorgebracht hatte, dass ihm ihre Armbänder fast schon wie Handschellen vorkamen, mit denen sie an ihr Schicksal gekettet war."

AVIVA-Tipp: Einen großartigen und unterhaltsam satirischen Roman hat Edith Wharton verfasst, der sich auch heutzutage noch mit großer Freude lesen lässt. Die Darstellung der Frauen als Dekor und Anhängsel, die widerlichen Blicke der Gentlemen, die den Körper hinabgleiten sind der #MeToo-Debatte erschreckend nah.

Zur Autorin: Edith Wharton wurde 1862 in New York geboren. Erste Veröffentlichungen anonym mit 15 Jahren. 1897 erschien ihr erstes Buch The Decoration of Houses, in dem es um Design geht. Sie selbst entwarf Gärten und Inneneinrichtungen. Ab 1906 lebte sie in ihrer Wahlheimat Südfrankreich. 1921 erhielt sie den Pulitzerpreis, 1923 verlieh ihr die Yale University als erster Frau die Ehrendoktorwürde, es folgten die Goldene Medaille des National Institute of Arts and Letters und die Aufnahme in die American Academy of Arts and Letters. Die Meisterin der realistisch-gesellschaftskritischen amerikanischen Literatur feierte ihre großen Erfolge mit Die Zeit der Unschuld / The Age of Innocence (1920) (verfilmt von Martin Scorsese) und Das Haus der Freude. Zu ihren bekanntesten Romanen gehören neben The Age of Innocence (1920) der hier vorliegende Roman The House of Mirth (1905). Wharton verfasste zahlreiche Kurzgeschichten, Novellen, Gedichte und Sachbücher, Reiseberichte und Essays. Am 1. Juni 1937 starb Wharton in ihrem französischen Landhaus an einem Herzinfarkt.

Zur Übersetzerin: Heddi Feilhauer wurde 1943 geboren und studierte Anglistik und Germanistik. Seit mehr als 20 Jahren ist sie als Übersetzerin tätig. Sie war Lehrbeauftragte an der FU Berlin und zweisprachige Moderatorin beim Internationalen Literaturfestival. Sie hat Vita Sackville-West übersetzt, verfasst englische Filmkritiken und unterrichtet ehrenamtlich Deutsch für Geflüchtete.

Edith Wharton
Die verborgene Leidenschaft der Lily Bart

Originaltitel: The House of Mirth
Aus dem Amerikanischen von Heddi Feilhauer
Verlag ebersbach & simon, erschienen Januar 2018
Gebunden, 464 Seiten
ISBN 978-86915-155-7
22,00 Euro
Mehr zum Buch unter: www.ebersbach-simon.de

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