Felix Jackson - Berlin, April 1933 - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 27.06.2018


Felix Jackson - Berlin, April 1933
Nea Weissberg

Wie völkisch-nationalistisches, antisemitisches Gedankengut eine Zivilgesellschaft radikal verändert und zwischenmenschliche Beziehungen beschädigt, beschreibt der deutsch-amerikanische jüdische Autor, Drehbuchautor und Filmproduzent rückblickend in seinem 1980 in New York unter dem Titel "Secrets of the Blood" erschienenen autobiographischem Roman anschaulich.




"Durch die Vergegenwärtigung der Fakten habe ich mein Gedächtnis geschärft"

Berlin 1933: Der Weg zur Vernichtung des jüdischen Volkes durch das nationalsozialistische Regime und ihren zahlreichen willfährigen HelfershelferInnen war das Ergebnis einer desolaten Entwicklung, in der eine moderne Demokratie in eine diktatorische Ausgrenzungsgesellschaft umgestaltet wurde. Und mit ihr wurden zivilrechtliche, moralische, zwischenmenschliche Grundsätze ausgehöhlt. Der Staat war gar kein Garant mehr für Schutz all seiner BürgerInnen. Es herrschte mehrheitlich die zweifellose Meinung darüber, wie man – staatlicherseits legalisiert – mit restlos ausgeschalteten Menschen umgeht, die man als nicht mehr zugehörig wie ein Freiwild hinopfert und ihnen das Existenzrecht in Gänze entzieht. Größtenteils gesellschaftlich akzeptiert – im vorauseilenden Gehorsam.

Menschenfeindliche Handlungsweisen und schroff verächtliche Formulierungen im Umgang, wurden im Alltag von "arischen Herrenmenschen" als normalisiert geregeltes Sprechen und Handeln angesehen und aufgrund nicht ausreichender Gegenwehr von Etlichen erschaudert ertragen. Zu groß war die Sorge, selbst ins Visier des Nazi-Regimes zu geraten.

Nachdem mit der Verabschiedung der "Nürnberger Gesetze" am 15. September 1935 die rechtliche Grundlage für antijüdische Maßnahmen beschlossen und durchgeführt wurde, war eine Bühne für die systematische Verfolgung jüdischer Bürger und Bürgerinnen im "Dritten Reich" geschaffen worden.

Vom Zeitungsmann zum Romanschreiber

Der Zeitungs-und Bücherschreiber, Bühnen- und Drehbuchautor Felix Jackson, am 5. Juni 1902 in Hamburg geboren, hat das gefährliche Kippen demokratischer Strukturen in diktatorisch genehmigten Machtmissbrauch persönlich 1933 in Berlin hautnah erfahren. Zu jener Zeit hieß er noch mit bürgerlichem Nachnamen Joachimson. Im Oktober 1933 emigrierte er zunächst nach Wien und Budapest, schließlich gelang es ihm Ende 1936, in die USA auszuwandern. Dort anglisierte er seinen Nachnamen.

1980 veröffentlichte er in New York seine Lebenserinnerungen an jene politischen Jahre von 1933 bis 1936. Seine ihm widerfahrenen, folgenschweren und ihn prägenden Erlebnisse in seinem Lebens-und Berufsumfeld im aufkommenden und sich etablierenden "Dritten Reich" hat er in dem Tagebuchroman "Secrets of the Blood" verarbeitet, in dem er seinen Protagonisten, Herrn Dr. Hans Bauer zum Ich-Erzähler macht – zu seinem Alter-Ego. Die Romanfigur und der Autor sind beide Halbwaisen, die Mutter erkrankte seelisch, so wuchs der Romanschreiber und sein Ich-Erzähler bei Vormunden auf. Der vermögende Vater hinterließ ein ansehnliches Vermögen, das nach dem I. Weltkrieg verfiel. Während Jackson Redakteur wurde und sein angefangenes Jurastudium abbrach, wird aus Bauer ein renommierter Jurist.

Es heißt, "Secrets of the Blood" fuße auf realistischen zwischenmenschlichen Begebenheiten. Die Namen der weiteren in der Erzählung vorkommenden ProtagonistInnen sollen allerdings vom Autor nahezu unkenntlich verändert worden sein. Jene, die dabei und gemeint waren, werden sich wohl dennoch beim Lesen der englischen Ausgabe erkannt haben.

Eine deutsche Buchfassung lehnte Felix Jackson jahrelang ab. Erst dem Übersetzer Stefan Weidle gelang es Anfang der 1990er Jahre Jackson zu überzeugen und er erhielt das Okay für die deutsche Übertragung. Doch der Schriftsteller Jackson sollte die deutsche Ausgabe nicht mehr in seinen Händen halten können. Er verstarb 1992 in Kalifornien.
Im darauffolgenden Jahr wurde sein Roman in deutscher Übersetzung unter dem Titel "Berlin, April 1933" im Aachener Alano-Verlag gedruckt – übersetzt von Stefan Weidle. Im gleichen Jahr gründete Stefan Weidle den Weidle Verlag in Bonn.

Wahre Begebenheiten aus dem Jahr 1933 laufen in Jacksons Roman zusammen

Jacksons Roman ist bereits in erster Auflage (Atheneum, 1993) längst vergriffen, das Buch kann nur noch mit Hilfe akribischer Suche aus zweiter Hand erstanden werden. 2018 wurde der Roman erneut gedruckt, eine kluge verlegerische Entscheidung. Der als Tagebuch angelegte Roman schildert den Aufbau von Machtstrukturen Anfang der dreißiger Jahre, die das private und berufliche Leben durchdringen.

Das erquickende Eldorado von St. Moritz war für den Protagonisten, den 33 Jahre alten Berliner Anwalt Dr. Hans Bauer eine erholsame und überfällige Auszeit. Was er nicht weiß, als er im April 1933 nach einer vier Monate lang währenden Rekonvaleszenz im Zug in Richtung Deutschland sitzt, ist, dass sich die Zeiten gesellschaftspolitisch radikal und rasant verändert haben.

Er ahnt ein Stück weit etwas vom Ausmaß, als er bei der Grenzkontrolle ungewollt Zeuge eines Vorfalls wird: Ein mitreisender Zug-Passagier, ein jüdischer Bankier namens Herbert Cohn, wird vom Zollbeamten und einem SA-Mann von einem Moment auf den anderen ohne eigenem Verschulden einfach drauflos vor aller Augen schikaniert und verhöhnt. Unter dem Deckmantel des NS-Staates wirkten moralisch niederträchtige, schamlose Taten auf einmal ehrbar. Der Jurist Dr. Bauer ist zutiefst irritiert und darüber langanhaltend schockiert.
In Berlin angekommen, wird er mit einer harten Realität konfrontiert, was es heißt, umgeben von aufstrebenden Nationalsozialisten zu leben.

Judenhass - ein Angriff auf die Demokratie

Bauer arbeitet in einer erfolgreichen Kanzlei als Sozius mit zwei anderen Partnern, die langjährig miteinander vertraut sind und sich wertschätzen. Einer von ihnen ist Siegmund Schwartz, ein glänzender Anwalt – ein Deutscher, vom Glaubensbekenntnis her Jude, der dem sich ausbreitenden Antisemitismus zum Opfer fallen wird.

Der Hass auf Juden und Jüdinnen – unverkennbar wie schlummernd – wurde zur salonfähigen Rechtfertigung und war in der Staatsführung, Gerichtsbarkeit, Gesellschaft und Wirtschaft sowie im Alltag auf der Straße präsent. Doch am jüdischen Eigentum bereicherte sich nicht nur der "arische" Pöbel, sondern insbesondere auch die gut situierte Oberschicht. Immer neue Gesetze und Erlasse machten dies möglich.

Berufliches Fortkommen durch die NSDAP- Parteimitgliedschaft?

Für die allgemeingültige berufliche Tätigkeit als Anwalt galt das "Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft" (7. April 1933), auf dieser Basis mussten alle Anwälte jüdischer Herkunft noch einmal ihre Zulassung beantragen. Nur wer seine Zulassung vor 1914 erhalten ("Altanwalt") oder als "Frontkämpfer" am I. Weltkrieg teilgenommen hatte, durfte weiter als Anwalt tätig sein. Alle anderen konnten ihren Beruf nicht mehr ausüben, ihre Zulassung zur Anwaltschaft musste zwangsangeordnet ruhen.

Denn die Herrschaft der Nationalsozialisten sollte auf allen Ebenen erhärtet werden. Juden und Jüdinnen sollten aus allen Aufgabenkreisen des gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen werden.

Auch in der Justiz sollte nun nach "Jude" und "Nicht-Jude" abgestuft ausgegrenzt werden, wobei die Herkunft der Großeltern tonangebend war und nur untergeordnet die aktuelle Religionszugehörigkeit. Das betraf z. B. Menschen jüdischer Herkunft, deren Eltern oder Großeltern bereits zum Christentum konvertiert waren.

Den "arischen" Anwälten, nazitreue Emporkömmlinge, wurden in Folge eine Anhebung ihres ökonomischen Einkommens und eine Statuserhöhung zugesichert.

Einordnungen, die der Karriere abträglich werden

Schlagartig gilt die Roman-Erzählerfigur, der Anwalt Dr. Hans Bauer, wegen seiner ihm bislang unbekannten jüdischen Großmutter als Nicht-Arier, bzw. als "Mischling zweiten Grades". Dieser Fakt wirft ihn zurück, treibt ihn immer mehr Tag und Nacht um.

Die Erlasse vom 14. November 1935 reichten einen Gesetzesinhalt nach, der das sogenannte "Rassenrecht" in bürokratische Praxis übertrug: Die 1. Verordnung zum "Reichsbürgergesetz" (§ 5) lautet: "Jude ist, wer von mindestens drei der Rasse nach volljüdischen Großeltern abstammt", "jüdischer Mischling ist, wer von einem oder zwei der Rasse nach volljüdischen Großeltern abstammt" (§ 2).

"Und jetzt war ich ein deutsches Schiff außerhalb deutscher Gewässer. Als meine Sekretärin mich über das neue Gesetz unterrichtete, nach dem man durch Dokumente nachweisen muß, daß in der Familie (mindestens) innerhalb der letzten vier Generationen kein jüdisches Blut war, bat ich sie, mir meine persönlichen Unterlagen zu schicken. Vor ein paar Tagen waren sie in St. Moritz angekommen, und ich hatte sie oberflächlich durchgesehen. Dann aber stellte ich fest, dass eine meiner Großmütter jüdischer Herkunft war. Das traf mich unvorbereitet. Unter den neuen Nazi-Gesetzen gelte ich nun nicht mehr als Arier."

Profiteure gegen Verlierer

Spannend ist es, seine Zerrissenheit, seine Selbstzweifel, seine Abwehr beim Lesen zu begleiten, wie der Ich-Erzähler erlebt, dass bewährt geglaubte Kontakte wegrutschen, sich systematisch nach und nach verändern, welche Konflikte sich daraus ergeben.
Der Ich-Erzähler beschreibt, wie Frauen, die eigentlich nicht ideologisch mit dem NS-Regime konform gehen, sich dennoch von machtvollen, prestigeträchtigen Positionsträgern blenden lassen und stolz sind, sich mit ihnen in der Öffentlichkeit zeigen zu können.

"Margie (eine Amerikanerin, Anm. der Rezensentin) kam herein, gefolgt von einem großen SS-Offizier, der die Mütze abnahm und sie seinem Adjutanten gab. Die Haltung des Mannes strahlte Macht aus... Margies dunkelhaarige Schönheit paßte ausgezeichnet zu ihm. Sie trug eine Silberfuchsstola über einem kurzen Kleid, ihr Gesicht glühte triumphierend. Sie sagte: ´darf ich euch Obergruppenführer Carl Adriani vorstellen´..."

Innerseelische Folge für den Einzelnen, wenn er plötzlich zu den Geächteten gehört

Dem Anwalt Dr. Hans Bauer war ein alltägliches traditionell jüdisches Leben gar nicht vertraut. Hierzu hatte er keinen Zugang, weil er nicht in solch einem Umfeld aufgewachsen ist. Er wuchs bei christlichen Vormündern auf. Seine jüdische Großmutter hatte er nie kennen gelernt, von ihrer Existenz nichts gewusst. Er hatte demnach keine positiv besetzte und mit Leben gefüllte jüdische Identität und natürlich keine Kenntnisse der Tradition und Riten.
Und dann wird ihm von einem Tag auf den anderen ein "Jude-Sein" aufoktroyiert, pejorativ besetzt. Plötzlich bedroht, selbst ein aus der Gesellschaft Ausgestoßener zu werden. Der Ich-Erzähler hält sich anfangs erschrocken, erschüttert zurück, zunächst in Gedanken und Grübeleien versunken.

"In den wenigen Stunden seit meiner Rückkehr nach Berlin habe ich vieles gesehen und gehört, das mich nervös macht. Ich bin ziemlich durcheinander. In St. Moritz war ich entspannt, frei von jedem Druck – selbst die Entdeckung, daß ich einen jüdischen Urgroßvater habe, brachte mich nicht aus der Ruhe. Ich bin Deutscher. Kein Jude. Niemand kann einen Juden aus mir machen."

Bauer verinnerlicht ungewollt althergebrachte Klischees und Stürmer-Karikaturen über das vermeintlich typische Aussehen von jüdischen Menschen und betrachtet sich immer besorgter werdend: "Ich sah in den Spiegel... Ich wandte den Kopf. Meine Nase war gerade, daran gab es nichts auszusetzen. Selbst im Profil konnte ich keine Krümmung entdecken. Das war keine jüdische Nase. Meine Unterlippe war stark ausgeprägt. Sie stand etwas über. Vielleicht war das ein Zeichen."

Widerstand im Kleinen gegen die NS-"Rassen"theorie

Einem Nebendarsteller, Reinhold Guttmann, Gründer und Inhaber eines bekanntes Kaufhauses in Berlin, lässt Jackson (in einem kurzen aber herzergreifenden Part) mit erhobenem Haupt zu seinen "arischen" Mitarbeitern, die ihm Hausverbot erteilen wollen, sagen: "Wenn Sie das Wort ´Jude´ für eine Beleidigung halten, irren Sie. Es ist ein sehr stolzes Wort. Ich bin stolz darauf, Jude zu sein. Mein Vater, mein Großvater, alle meine Vorfahren waren Juden, und in unserer Familie wäre es eine soziale Schande gewesen, ein nicht-jüdisches Mädchen zu heiraten. Wenn Sie also Ihre Rassentheorie auf mich anwenden wollen – niemand kann reineres Blut haben als ich."

Einen "Arier"-Nachweis erkaufen

In eine für ihn prekäre Situation geraten, keinen lupenreinen "Arier"-Nachweis" erbringen zu können, wird der Anwalt Dr. Bauer zur Geisel von Carl Adriani, einem fuchsschlau gerissenen, intrigant erpresserischen SS-Mann und einflussreichen Leiter der Abteilung "Schutz des deutschen Blutes", der probiert, Dr. Klaus von Isenbergs und Dr. Hans Bauers integre Sozietäten-Kanzlei durch einen NS-regimetreuen mittelmäßigen Winkel-Advokaten zu infiltrieren. Von Isenberg versucht seinem langjährigen Geschäftskompagnon und Freund zu helfen: "Die Kanzlei wird möglicherweise eine beträchtliche Summe zahlen müssen...Der Schutz des deutschen Blutes ist teuer... Das Hauptziel ist, deine Zulassung nicht zu gefährden..."

Zerrissenheit aus Karrieregründen

Der Protagonist ist verstrickt in seiner Ambivalenz, er ist zugleich ein Zeitzeuge, Protokollierender, Zuschauender, in sich zerrissen, dabei aber immer mehr mitfühlend mit den Gedemütigten.
"Wir sehen zu, wie Hitler das erste seiner Ziele zu verwirklichen beginnt: die Entfernung der Juden aus dem öffentlichen Leben Deutschlands. Ich hatte nie antisemitische Gefühle und kann die Judenverfolgung aus Prinzip nicht billigen. Persönlich aber fühle ich mich nicht betroffen. Ich bin kein Jude."

Doch seine persönliche Sichtweise ist nicht gefragt. Auf heftige Weise wird er mit der Realität konfrontiert, ein rechtloser Jude zu sein, als er sich nicht als ein Spitzel von Adriani einsetzen lässt.
"Sie haben bewußt versucht, dies vor den zuständigen Behörden zu verschleiern, um als Arier zu gelten. Sie sind Jude. Ich erkläre Ihnen hiermit, dass die Juden betreffenden Gesetze und Verordnungen, die unter dem Sammelbegriff "Gesetz und Verordnungen zum Schutz des deutschen Blutes" erlassen wurden, auf Sie volle Anwendung finden."

Anschaulich und aufrüttelnd den Tatsachen im nationalsozialistischen Terror-Regime ins Auge sehend, lässt Felix Jackson die LeserInnenschaft mitbangen, wie sich die Schlinge um Dr. Bauers Kehle allmählich zuzuschnüren droht.
Seine ProtagonistInnen werden im Roman einerseits mit Heimtücke, Hetzjagd, demütigender sadistischer Grausamkeit, brutalen körperlich schmerzhaften Züchtigungen sowie einer Herrenmenschen-Allmacht über Leben und Tod, sowie mit Raubmord und Profitgier – andererseits mit einer Palette an Emotionen konfrontiert: Bestürzung, Kummer, Leid, Solidarität, Konspiration, Mitmenschlichkeit sowie mit Abscheu und ohnmächtigem Zorn.

In seiner Vorbemerkung schrieb der Autor:
Die Handlung des Romans basiert auf tatsächlichen Ereignissen. Alles hat sich so abgespielt wie beschrieben.
Die Figuren des Romans haben tatsächlich gelebt.
Nur ihre Namen wurden geändert.


Hinsichtlich der geschichtlichen Authentizität hätten aus Sicht der Rezensentin im zwar fiktiven Roman historisch nicht korrekt dargestellte Verordnungen in Fuß-oder Endnoten in der deutschen Übersetzung korrigiert werden sollen. So wurden z. B. Deutsche Juden und Jüdinnen erst per Gesetz 1939 verpflichtet, zusätzlich den männlichen Vornamen Israel und den weiblichen Vornamen Sara zu führen. Diese Namensänderung war bis zum 31. Januar 1939 beim zuständigen Standesamt sowie bei der betreffenden Ortspolizei anzugeben.

Die deutsche Erstausgabe, die 1993 erschien, enthielt eine "Nachbemerkung des Übersetzers": "Dem kundigen Leser werden einige historische Unstimmigkeiten in nicht entgangen sein. So fand die Premiere von "Arabella" erst am 12. Oktober 1933 statt. (…) Die von Jackson erwähnte Verordnung, nach der Juden zweite Vornamen in ihrem Paß führen mußten, wurde erst im August 1938 erlassen. (…) Es ging um eine innere, atmosphärische Wahrheit. Darum hat der Übersetzer darauf verzichtet, historisch falsche Details für den deutschen Leser richtigzustellen oder mit Anmerkungen zu übersehen."

In seinem Nachwort schreibt der Herausgeber Stefan Weidle im Jahr 2018: "Felix Jacksons Roman wurde 1980 in den USA publiziert. (…) Er wandte sich an ein amerikanisches Publikum, das mit den historischen Details der Nazi-Zeit ungefähr so vertraut war wie ein heutiger deutscher Leser. Jackson musste also die wenigen bekannten Namen benutzen, Richard Strauss und Gerhart Hauptmann, auch wenn sie nicht genau in den historischen Kontext passten."

AVIVA-Tipp: "April 1933" ist ein zeitdokumentarisch literarisches Dokument, das exemplarisch die Anfänge des "Dritten Reiches" in seiner Brutalität ohne Wenn und Aber wegweisend aufzeichnet. Ein fesselndes Buch, eine Parabel über aufweichende zivilgesellschaftliche Strukturen.

Zum Autor: Felix Jackson (1902 als Felix Joachimson in Hamburg geboren) arbeitete in den 1920er Jahren als Journalist für den Berliner Börsen Courier. Später wurde er ein erfolgreicher Bühnenautor ("Fünf von der Jazzband", "Wie werde ich reich und glücklich"). Letzteres hatte seine Uraufführung am 15. Juni 1930 in der Komödie am Kurfürstendamm, die Kabarettrevue war das Ergebnis der Zusammenarbeit mit dem russisch-britisch-jüdischen Komponisten Mischa Spoliansky.
Bei der Premiere seiner Komödie "Das häßliche Mädchen" in der mit Dolly Haas und Max Hansen zwei jüdische SchauspielerInnen die Hauptrollen spielten, kam es im September 1933 zu Ausschreitungen der SA.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten emigrierte er nach Österreich und Ungarn und verfasste Filmdrehbücher, hauptsächlich für Hermann Kosterlitz (Henry Koster). 1935 oder 1936 kehrte er nochmals nach Berlin zurück, um einem Freund, Fritz Goldberg, zu helfen, der von den Nazis verhaftet worden war. 1936 ging er in die USA, setzte seine Tätigkeit als Drehbuchautor fort (Destry Rides Again, 1939) und wurde Produzent, zuletzt für das amerikanische Fernsehen. "Berlin, April 1933" war sein dritter Roman, er erschien 1980 unter dem Titel Secrets of the Blood in den USA. 1992 starb Jackson in Camarillo, Kalifornien.
Die deutsche Übersetzung erschien zuerst 1993 im Alano-Verlag, Aachen, und wird nun nach 25 Jahren wieder zugänglich gemacht, nicht ganz ohne Gedanken an gegenwärtige beunruhigende Entwicklungen. (Quelle: Verlagsinformation)
Mehr Informationen zu Felix Jackson und eine vollständige Filmografie in der Internet Movie Database (IMDb): www.imdb.com

Felix Jackson
Berlin, April 1933

Originaltitel: Secrets of the Blood
Aus dem Amerikanischen und mit einem Nachwort von Stefan Weidle
Weidle Verlag, erschienen März 2018
288 Seiten, fadengeheftete Broschur
23 Euro
ISBN 978-3-938803-88-2
Mehr Infos zum Buch unter: www.weidleverlag.de

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Von Berlin nach Los Angeles - die Musikwissenschaftlerin Anneliese Landau. Herausgegeben von Daniela Reinhold im Auftrag der Akademie der Künste
In ihren autobiographischen Aufzeichnungen berichtet die Musikwissenschaftlerin Anneliese Landau im Alter von 84 Jahren von ihrer großen Karriere in Deutschland, die mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten jäh beendet wurde. Ein Neubeginn in den Vereinigten Staaten gestaltete sich schwer – als Jüdin, und als Frau. (2018)

Irmgard Keun – Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften. Irmgard Keun – Kind aller Länder
Ihre gesellschaftskritischen Romane, "Gilgi, eine von uns" (1931) und "Das kunstseidene Mädchen" (1932) machten sie schlagartig berühmt. Der Star der Literaturszene der Dreißiger Jahre, deren Werke wegen ihres messerscharfen Satire-Stils und Gesellschaftskritik von den Nazis verboten und verbrannt wurden, geriet in den 1950er Jahren in Vergessenheit. Erst durch eine Veröffentlichung im "Stern" im Jahr 1977 wurde Irmgard Keun wieder in das Bewusstsein der literarischen Öffentlichkeit gebracht. (2017)

Bettina Baltschev - Hölle und Paradies. Amsterdam, Querido und die deutsche Exilliteratur
Die Kulturwissenschaftlerin und Hörfunk-Redakteurin Bettina Baltschev begab sich auf die Spurensuche in Amsterdam und fragte danach, welche Bedeutung Amsterdam für die von den Nazis verfolgten und verbotenen deutschen Exilschriftler_innen bis zur Besatzung durch die Deutschen hatte. Ihre geistige Heimat fanden sie von 1933 bis 1940 im Querido Verlag. (2017)

Gabriele Tergit – Käsebier erobert den Kurfürstendamm
Als der Volkssänger Käsebier 1931 zum Megastar wird, ist Berlin ist eine aufregende und dynamische Stadt, eine Stadt vieler Kulturen und Identitäten. Der satirische Gesellschaftsroman der als Elise Hirschmann geborenen Schriftstellerin und Gerichtsreporterin erschien 1931 erstmals im Rowohlt Verlag. In den Folgejahren wurde das Werk über das Berlin der späten Weimarer Republik in verschiedensten Verlagen veröffentlicht, geriet schließlich in Vergessenheit, bevor er nun, im Frühjahr 2016, im Schöffling Verlag von Nicole Henneberg herausgegeben und mit einem Nachwort versehen wurde. (2016)

Ernestine Amy Buller - Finsternis in Deutschland. Was die Deutschen dachten. Interviews einer Engländerin 1934-1938
Wie kann ein ganzes Volk in die Fänge einer extremistischen Ideologie geraten? Die Engländerin Amy Buller wollte dies in den 1930er Jahren direkt von denen hören, die in Nazi-Deutschland lebten. Sie interviewte Menschen unterschiedlichster Herkunft und Gesellschaftsschicht und gibt damit Einblick in die Hoffnungen, Nöte, Wünsche und Selbsttäuschungen derjenigen, die in Nazi-Deutschland geblieben sind. (2016)

Siegfried Kracauer - Straßen in Berlin und anderswo
Seinen Texten wohnt eine stille, unwiderstehliche Kritik inne, die nicht in messerscharfen Analysen daherkommt, sondern in beinahe flüsternder, wachsamer, kristallklarer Wahrnehmung von Wirklichkeit. (2009)

Transit Amsterdam, Deutsche Künstler im Exil 1933 - 1945
Die geografische Nähe, die lange offenen Grenzen und die Gastfreundschaft führten dazu, dass Amsterdam bis zum Einmarsch der deutschen Truppen ein bevorzugter Ort für deutsche Flüchtlinge wurde. (2008)

Wie würde ich ohne Bücher nur leben und arbeiten können. Herausgegeben von Ines Sonder, Karin Bürger, Ursula Wallmeier
Diese Frage stellte sich für jüdische Intellektuelle im 20. Jahrhundert, die ihre gesamte und geliebte Bibliothek auf der Flucht aus Nazi-Deutschland zurücklassen mussten. Die HerausgeberInnen begeben sich in diesem Sammelband auf eine Spurensuche nach den literarischen Wurzeln in die Privatbibliotheken großer jüdischer Gelehrter. (2008)


Literatur

Beitrag vom 27.06.2018

Nea Weissberg