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Beitrag vom 17.08.2018
Nora Amin - Weiblichkeit im Aufbruch
Tina Schreck
Das Essay der in Kairo geborenen Schriftstellerin, Performance-Künstlerin und Theatermacherin Nora Amin liest sich wie ein persönlicher Erfahrungsbericht über die Entwertung des eigenen, weiblichen Körpers durch den zumeist männlichen Blick. Die tagebuchartigen Episoden behandeln sexuelle Gewalt gegen Frauen im Zusammenhang mit dem Arabischen Frühling und geben zudem einen umfassenden Einblick in die Gedankenwelt der Verfasserin.
Der weibliche Körper: Sinnbild für Faszination und Servilität zugleich. Seit jeher wird er unterdrückt, geschändet und über ihn geherrscht. Und auch wenn Nora Amin sich in der Öffentlichkeit oft unwohl in ihrem Körper fühlt, ist er doch ihr Kapital. Denn die Performance-Künstlerin und Tänzerin steht auf der Bühne. Ihr Beruf ist es zu spielen, zu kommunizieren und zu projizieren. Das Theater ist der Ort, an dem sie zu der Frau wird, die sie sein will. Nur dort kann sie sich frei bewegen, tanzen, schreien, sich verlieben. Die Realität hingegen sieht anders aus. Denn auf den Straßen Kairos "gibt es keine Regeln", stellt Nora Amin in ihrem Essay nüchtern fest. "Ich begleite mein Geschlecht und mein Geschlecht begleitet mich. Die Straße nimmt meine Weiblichkeit wahr und behandelt mich dementsprechend." Während sie auf der Bühne noch die Kontrolle über ihren Körper hat, ihn als kraftvoll und mächtig erlebt, sieht sie ihn in Gefahr, sobald sie sich im öffentlichen Raum bewegt.
Der weibliche Körper als Bedrohung
Mit Dezember 2010 beginnt im arabischen Raum eine Serie von Revolutionen und Aufständen, die sich gegen das in den jeweiligen Ländern herrschende autoritäre Regime und deren politische Strukturen richtet. Schauplatz der Proteste in Ägypten ist der Tahrir-Platz, an dem die Frauen tanzen und ihre Schleier ablegen. Sie fordern ihr Recht auf Freiheit und den damit verbundenen Sturz des seit 30 Jahren regierenden, autokratischen Staatspräsidenten Husni Mubarak ein. Die Konsequenzen des Zusammenbruchs des Polizeistaates und der Protestbewegungen sind verheerend. Immer wieder kommt es zu sexuellen Übergriffen und zu brutalen Massenvergewaltigungen. Außerhalb des häuslichen Umfeldes und beteiligt an öffentlichen Debatten scheint der weibliche Körper mehr denn je zur Bedrohung zu werden. "Noch bedrohlicher wird seine Anwesenheit, wenn er fremd ist, einer liberalen, der lokalen Ordnung entgegenstehenden Kultur angehört", konstatiert Nora Amin und bringt in diesem Zusammenhang die Vergewaltigung der südafrikanischen CBS-Reporterin Lara Logan ins Spiel. Die erfahrene Kriegsberichterstatterin befand sich am 11. Februar 2011 auf dem Tahrir-Platz, um über die Feierlichkeiten anlässlich des Erfolges der ägyptischen Revolution sowie Mubaraks Rücktritts zu berichten, als sie von einem Mob abseits gedrängt und mehrfach vergewaltigt wurde. "Die Männer vergewaltigten sie mit ihren Händen. Während der letzten fünfundzwanzig Minuten des Übergriffs kämpfte Lara Logan buchstäblich um ihr Leben. Ihre Vergewaltiger versuchten, ihr Gliedmaßen vom Körper und die Kopfhaut vom Schädel zu reißen."
Nora Amins Protest gegen das patriarchale Wertesystem
Trotz all der Grausamkeiten diente der Arabische Frühling als bedeutender Wendepunkt im Leben ägyptischer Frauen, da er dazu bewog, die Grenzen zwischen den Geschlechtern zu überwinden. "Die Frauen werden nicht länger ins Haus gehören. Sie haben den öffentlichen Raum, ihr Land übernommen. Es war an der Zeit, mein Selbst als Tänzerin / Rebellin zu reaktivieren", schreibt die Autorin in ihrem Essay. Sie gründete das ´Landesweite ägyptische Projekt für ein Theater der Unterdrückten´, eine Theaterbewegung, die auf einen landesweiten Wandel abzielte und es Schauspieler_innen und Zuschauer_innen ermöglichen sollte, durch improvisierte Selbsteinbringung aus der tradierten Mentalität der Unterdrückung auszubrechen und neue Wege der Konfliktlösung zu finden. Erstmals war es der Künstlerin möglich, ihre zwei verschiedenen Körper - den beruflichen und den privaten - miteinander zu vereinen.
Politischer und Biografischer Essay
Nora Amin revoltiert als Frau und als Künstlerin. Gewaltszenen vermischen sich mit Kindheitserinnerungen und persönlichen Gedanken. Von gesellschaftlichen und privaten Beobachtungen, Gewalt im Alltag, sexueller Belästigung, Massenvergewaltigung, dem Arabischen Frühling bis hin zu ihrer eigenen Migrationserfahrung in Deutschland - die unterschiedlichsten Themen werden von der Autorin behandelt, was es teilweise schwierig macht, ihren Gedankensprüngen zu folgen. Doch gerade diese scheinbare Zusammenhanglosigkeit verleiht dem Werk einen sehr persönlichen Touch, da sie tief in die intime Gedankenwelt der Künstlerin blicken lassen.
AVIVA-Tipp: "Weiblichkeit im Aufbruch" beschreibt den Arabischen Frühling aus weiblicher Sicht. Anhand persönlicher Erfahrungen und Beobachtungen schildert Nora Amin ihren Leser_innen, was es heißt, sich aus dem "Gefängnis" des weiblichen Körpers zu befreien und für ihre Rechte als Frau einzustehen.
Nora Amin
Weiblichkeit im Aufbruch
Originaltitel: Migrating the Feminine
Ãœbersetzung: Max Henninger
Matthes & Seitz Berlin, erschienen 2018
124 Seiten, Softcover
ISBN: 978-3-95757-571-5
14,00 €
Mehr zum Buch unter: www.matthes-seitz-berlin.de
Zur Autorin: Nora Amin wurde 1970 in Kairo geboren. 1992 schloss sie ihr Studium in Französisch und Vergleichender Literaturwissenschaft ab und war als Lehrerin an der Kunstakademie in Kairo tätig. Nebenbei leitete sie Theaterworkshops, führte Regie bei diversen Theaterproduktionen, gründete die freie Theatergruppe LaMusica und war Samuel Fischer Gastprofessorin für Literatur in Berlin. Heute arbeitet sie als freie Autorin, Performerin und Theatermacherin. Seit 2000 beschreitet sie konsequent neue Wege abseits des staatlichen und kommerziellen Theaters. Sie verfasst Romane, Kurzgeschichten, Essays und Gedichte, in denen sie politisches Engagement mit der Suche nach neuen literarischen Ausdrucksformen verbindet.
Weitere Infos zu Nora Amin unter: www.matthes-seitz-berlin.de, www.sfischergastprofessur.de und www.facebook.com
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