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Beitrag vom 19.09.2018
Jennifer Egan - Manhattan Beach
Bärbel Gerdes
Weitaus konventioneller als in ihren früheren Romanen zeigt sich die Pulitzer- und Carroll Kowal Journalism Award Preisträgerin Jennifer Egan in ihrem neuen Werk. Die US-amerikanische Schriftstellerin, die mit "Der größere Teil der Welt" und "Black Box" wegen ihrer innovativen Romanideen erstaunte, entführt die Leserin in die Häfen New Yorks während des Zweiten Weltkrieges.
Die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre tobt. Menschen mit einem geregelten Leben und ebensolchem Einkommen geraten ins Strudeln. Frauen nähen zu Hause im Akkord, Männer versuchen, sich irgendwie über Wasser zu halten. Die Kluft zwischen legalen und illegalen Geschäften wird schmaler.
Gleich im ersten Kapitel begleitet Anna Kerrigan ihren Vater zu Mr. Dexter Styles, der ein luxuriöses Haus am Meer besitzt. Während ihr Vater mit dem Nachtclubbesitzer redet, spielt Anna mit der Tochter Tabby und sieht eifersüchtig auf deren riesige Spielzeugsammlung. Dass sich bei diesem Treffen etwas anbahnt, was für den Verlauf der Geschichte von entscheidender Bedeutung sein wird, ist offensichtlich.
Bald darauf ist Annas Vater spurlos verschwunden.
Es hämmert, es zischt und dampft. Kräne tragen riesige Metallplatten. Gigantische Schiffe laufen leise aus. Dünste nach Fisch, Salz, Benzin. Schnell befinden wir uns im New Yorker Hafen, Anfang der vierziger Jahre.
Schweißerinnen tragen schwere Helme und dicke Handschuhe, Frauen strömen den Werkhallen zu.
Der Zweite Weltkrieg tobt. Männer werden eingezogen, während die Frauen Arbeiten verrichten, die neu für sie sind. Auch Anna arbeitet in einem neuen Bereich. Auf der New Yorker Marinewerft überprüft sie kriegswichtige Metallteile für Schlachtschiffe, eine Aufgabe, die einerseits Konzentration erfordert, andererseits abstumpft. Das "nagende Gefühl, von etwas Wichtigem, Elementarem abgeschnitten zu sein … hatte sie schon vor Pearl Harbor belastet und im letzten Sommer … in die Marinewerft gelockt."
Als sie Männer beobachtet, die mit schweren Anzügen und Helmen auf Tauchgang gehen, erweckt in ihr die Lust, selbst Taucherin zu werden.
Anna ist eben anders – sie spielte nicht mit Puppen, zog die Gesellschaft von Jungen vor und war und ist selbstbewusst. Anders als die anderen Frauen in diesem Roman, die den "richtigen", das heißt reichen, Mann suchen, denen Schön- und Blondheit wichtig sind und die nachts in den Jazzclubs tanzen gehen.
Die Menschen pflegen ihre Vorurteile: die Itzigs machen krumme Geschäfte, auch den Polacken ist nicht zu trauen, jüdische Mädchen werden wegen ihrer üppigen dunklen Locken von aller Welt beneidet und mit den Iren ist zwar gutes Auskommen, aber auch nur, solange sie nüchtern sind.
Jennifer Egans Roman könnte ein Schwarz-Weiß-Film der späten vierziger Jahre sein. Die Autorin entwirft Bildsequenzen vor dem geistigen Auge der Leserin, wir hören die kreischenden Töne der Trompete, wir sehen die Männer an dunklen Tischen in einer Nische des Tanzlokals. Alles wird so lebendig geschildert, dass wir fast dem schweren LKW ausweichen, der über das Hafengelände, rast und mit Anna untergehen, als sie tatsächlich das erste Mal mit dem runden Tauchhelm und dem kaum zu tragenden Anzug ins Wasser steigt.
Doch was Egan mit diesem Roman will, ist ähnlich nebulös wie der Zigarettenrauch in den Clubs. Genauso schwarz-weiß wie der Film sind die Charaktere, von denen lediglich Anna hervorsticht und dennoch nicht wirklich begreifbar wird. Ständig stolpern wir über Stereotype.
All dies verwundert bei einer Schriftstellerin, die gerade durch ihre Unkonventionalität und Originalität auf sich aufmerksam gemacht hat. Black Box, 2013 erschienen, ist ein Roman, der nur aus Tweets besteht. A Visit From the Goon Squad, deutsch Der größere Teil der Welt enthält neben einer Stimmenvielfalt der ProtagonistInnen Powerpoint-Präsentationen und bricht mit herkömmlichen Erzählstilen.
In ihrer Rezension in der Süddeutschen Zeitung fragt Birthe Mühlhoff, ob Jennifer Egan einfach einen Bestsellerroman schreiben wollte aus den Elementen, aus denen Bestsellerromane bestehen oder ob sie gar beweisen wollte, dass ein Buch gut geschrieben sein kann, ohne ein gutes Buch zu sein.
Frappierend an diesem Roman ist die Anzahl der Stilblüten, wobei zu fragen ist, ob dies eben jene Parodie eines Bestsellerromans ist oder einfach eine schlechte Übersetzung. Da geht der Vater hinaus auf die Feuerleiter, um eine Zigarette zu rauchen und schließt das Fenster, "damit Lydia keinen Zug abbekam". Von der Zigarette?
Da verschwindet die Erinnerung an Manhattan Beach "in der Ferne wie ein Apfelstrunk, der aus einem Zugfenster flog." Eine Protagonistin hat das klassische Gesicht einer Greisin: "Ein verdorrtes Delta aus Schluchten und Nebenflüssen, verbunden mit dem schnappenden Kiefer eines Dobermanns".
Wenn dann noch in Ganovenmanier konstatiert wird, dass Badger Chicago liebte, aber Chicago Badger nicht und zur Begründung herangeführt wird: "In der Stadt des Windes war irgendetwas mächtig in die Hose gegangen", zweifelt die Rezensentin dann doch, ob Jennifer Egan es tatsächlich Ernst meinte oder ob sie einfach ausprobieren wollte, wie weit sie kommt mit diesem Bestseller? Die Verkaufszahlen werden die Antwort geben.
AVIVA-Tipp: Der Leserin, die sich in das New York der vierziger Jahre begeben und dabei von einer Frau, die das Meer liebt, begleitet werden möchte, sei dieser Roman zu empfehlen. Lebendig erzählt mit mächtigen Bildern erzeugt Jennifer Egan jene Literatur, die gerne goutiert wird.
Zur Autorin: Jennifer Egan wurde 1962 in Chicago geboren und wuchs in San Francisco auf. Neben ihren Romanen und Kurzgeschichten, von denen einige verfilmt wurden, schreibt sie für den New Yorker sowie das New York Times Magazine und lehrt an der Columbia University Creative Writing. Bislang veröffentlichte sie vier Romane. Jennifer Egan wurde mit dem Thouron Award ausgezeichnet. 2002 schrieb sie eine Geschichte über obdachlose Kinder, für die sie den Carroll Kowal Journalism Award erhielt. Ihre Geschichte über bipolare Kinder wurde mit dem Outstanding Media Award der National Alliance on Mental Illness geehrt.
Für ihren Roman "Der größte Teil der Welt" gewann Jennifer Egan den National Book Critics Circle Award (Fiction), den Los Angeles Times Book Prize und den Pulitzer Prize. Die Schriftstellerin lebt und arbeitet im New Yorker Stadtteil Brooklyn.
Die Autorin im Netz: www.jenniferegan.com
Zum Übersetzer: Henning Ahrens, 1964 in Peine geboren, ist Schriftsteller und literarischer Übersetzer. Nach dem Studium der Anglistik, Geschichte und Kunstgeschichte in Göttingen, London und Kiel promovierte er 1995 wurde er an der Universität Kiel im Fach Philosophie. Ahrens übersetzte u.a. Richard Powers, Khaled Hosseini und Annie Dillard. Er veröffentlichte Romane, Gedichte und Essaybände und lebt in Frankfurt am Main.
Jennifer Egan
Manhattan Beach
Originaltitel: Manhattan Beach
Aus dem amerikanischen Englisch von Henning Ahrens
S. Fischer Verlag, erschienen am 29. August 2018
496 S.
ISBN: 978-3-10-397358-7
22,00 Euro
Mehr zum Buch: www.fischerverlage.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Jennifer Egan - Black Box
Die Entstehung eines literarischen Textes könnte kaum absurder sein: Die 47 kurzen Kapitel des Buches setzen sich aus Tweets zusammen, die die Autorin zu einem dystopischen Agentinnenthriller mit rasantem Erzähltempo und medienkritischer Absicht verbindet – ein furioses Experiment über die Strapazierfähigkeit von Literatur und Erzähltechnik. (2013)
Jennifer Egan - Der größere Teil der Welt
Dreizehn Kapitel mit jeweils unterschiedlichen Hauptfiguren, die erzählte Zeit reicht von den späten 1970er Jahren bis in die nahe Zukunft - das klingt episch. Ist es auch. Der Autorin gelingt es, die vielen Figuren, Geschichten und Ereignisse so geschickt miteinander zu verweben, dass die vielen einzelnen Teile nicht auseinander fallen, sondern eine riesige Erzählung von beeindruckender Komplexität ergeben. (2012)