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Beitrag vom 24.09.2018
Anneloes Timmerije - Jedes Ding an seinem Platz
Bärbel Gerdes
Was geschieht, wenn es keine gedruckten Bücher und nur noch eine Buchhandlung in Amsterdam gibt? Wann sind Lügen erlaubt? Wie soll der pedantische Metzger reagieren, wenn plötzlich buchstäblich etwas verrückt ist? In ihrem großartigen Erzählband zeigt die Niederländerin Anneloes Timmerije das Genre der Kurzgeschichte auf höchstem Niveau.
Sie wird oft behandelt, als sei sie die Stieftochter des Romans, das Aschenputtel unter den literarischen Gattungen: zu kurz gekommen, unbeachtet und auch ein wenig wertlos. Angeblich erreiche die Kurzgeschichte nicht die Vielschichtigkeit und Tiefe des Romans, sei aber zu lang für die Prägnanz eines Gedichtes.
All dies fegt Anneloes Timmerije mit einem Federstrich vom Tisch. Die 1955 in Amsterdam geborene und in Leiden aufgewachsene Schriftstellerin und Journalistin beherrscht die Kunst der Erzählung perfekt und macht deutlich, dass es sich um eine ganz eigene Textgattung handelt. Auf wenig Raum wird eine Welt entworfen, die alles Notwendige beinhaltet und alles Überflüssige draußen lässt. Die Leserin muss darin eintauchen können.
Die Autorin beschreibt das im am Ende des Buches abgedruckten Interview so: "Wie beim Eisschnelllauf muss jeder Schritt sitzen, man darf kaum langsamer werden und keine Verschnaufpausen einlegen." Dass sich dies auf die Machart, nicht aber auf den Inhalt bezieht, illustriert die Geschichte Der Andreaspfad, in der eine Frau nach Jahrzehnten ihren in die Vereinigten Staaten ausgewanderten Onkel wieder trifft. Die beiden machen einen Reitausflug zum Mount Diablo. Auf schmalen und steilen Pfaden lassen sie sich gemächlich von den Pferden nach oben tragen und schweigen meistenteils. Die Enttäuschung darüber, dass ihr Onkel nichts von ihr wissen möchte, schluckt die Ich-Erzählerin herunter. Beide hängen ihren eigenen Gedanken nach, solange der Weg nicht die ganze Aufmerksamkeit fordert. Ganz langsam kehrt ein Gefühl von Vertrautheit zurück und ein stilles Glück.
Wenn Frau Lammers in ihrer Wohnung den elend langen Tag vor sich hat, der so früh mit der Ankunft der Pflegerin beginnt und damit endet, dass sie bereits um sechs Uhr abends, wenn die Pflegekraft ein zweites Mal kommt, im Nachtzeug herumsitzt, ziehen sich die Stunden ins Unendliche. Dem immer gleichen Ablauf von Staubwischen, Rätsel raten, Quizshows gucken und vom in der Mikrowelle erhitzten Kaffee steht die unter permanentem Zeitdruck stehende Karin gegenüber, die versucht, es ihren PatientInnen so schön wie möglich zu machen. Doch wenn sie einmal auf die Bedürfnisse eingeht, kommt sie in Verzug. Die Wettbewerbsfähigkeit des Pflegedienstbetreibers hing nicht von der Qualität von Personal und Pflege ab, sondern von der Geschwindigkeit. Je schneller, desto günstiger.
Sie stelle den Gegensatz von übervolle[n] Leben auf der einen und leergelaufene[n] Leben auf der anderen Seite da, erzählt Timmerije im Gespräch mit Carien Touwen für das Kurzgeschichtenportal Hebban Kort. Es sei eine schöne Zugabe, wenn sich die LeserInnen nach der Lektüre über die Probleme der Altenpflege Gedanken machten, "aber es ist nicht mein Ziel".
In vielen der Erzählungen von Anneloes Timmerije gibt es einen Moment des Risses im Leben der ProtagonistInnen - ein Verleugnen, ein Verschweigen, ein Punkt, an dem es endgültig reicht. Dieses ganz leichte Kippen der Geschichte kommt oft überraschend und unversehens und macht das Lesen zu einem Hochgenuss.
AVIVA-Tipp:In Jedes Ding an seinem Platz zeigt die Niederländerin Anneloes Timmerije beeindruckend, was die Kurzgeschichte alles vermag. Wie die Autorin kleinste Handlungen beobachtet und uns daran teilhaben lässt, wie sie uns emotional in die Geschichten hineinzieht und wir mal atemlos, mal tief und lange einatmend lesend dabei sind, ist große Kunst.
Zur Autorin: Anneloes Timmerije wurde 1955 in Amsterdam geboren und wuchs in Leiden auf. Sie hat einen bikulturellen niederländisch-indonesischen Familienhintergrund, der in vielen ihrer Texte anklingt. Ihr literarisches Debüt, der Erzählband Zwartzuur, erhielt 2006 den Vrouw & Kultuur Debuutprijs und wurde zudem für den Anton Wachterprijs und den Debutanten Prijs nominiert. Die gleichnamige Geschichte erschien bei edition fünf unter dem Titel Ente schwarzsauer in der Anthologie Wär mein Klavier doch ein Pferd. 2010 folgte der Roman De grote Joseph sowie 2013 ein weiterer Band mit Erzählungen, Slaapwandelen bij daglicht. Zusammen mit Charles den Tex schrieb sie Het vergeten verhaal van een onwankelbare liefde in oorlogstijd (2014). (Verlagsangaben)
Mehr Infos zur Autorin: www.anneloestimmerije.nl
Zur Übersetzerin: Bettina Bach wurde in Deutschland geboren und wuchs ab dem vierten Lebensjahr in Frankreich auf. In Paris machte sie eine Verlagsfachausbildung und studierte anschließend Germanistik in Berlin. Studium der Kulturwissenschaften in Amsterdam. Gleichzeitig Arbeit in einem Verlag und einer Literaturstiftung. Anschließend in München freiberufliche Korrektorin und Lektorin. Bettina Bach übersetzt seit 2002 aus dem Französischen, Englischen und Niederländischen. Zu ihren übersetzten AutorInnen gehören Didier Decoin, Jan Siebelink, Tommy Wieringa, Mary Hooper sowie Anne Plichota und Cendrine Wolf. 2014 wurde sie für ihre Übersetzung von Arjan Vissers Der blaue Vogel kehrt zurück mit dem Else-Otten-Übersetzerpreis ausgezeichnet. Für den vorliegenden Band hat Bettina Bach die Erzählungen zusammengestellt und übersetzt.
Sehr lesenswertes Interview mit Bettina Bach: www.literatopia.de
Anneloes Timmije
Jedes Ding an seinem Platz
Erzählungen
Originaltitel: De plaats der dingen
Aus dem Niederländischen von Bettina Bach
edition fünf, erschienen am 3. September 2018
Deutsche Erstausgabe
192 Seiten, Bezug Naturpapier. Hardcover
ISBN 978-3-942374-95-8
19.00 Euro
Mehr zum Buch und Bestellung unter: www.editionfuenf.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
"Wär mein Klavier doch ein Pferd. Erzählungen aus den Niederlanden"
25 Jahre lebte Doris Hermanns in den Niederlanden. In ihrer Anthologie stellt die Redakteurin und Autorin uns die Erzählkunst niederländischer Autorinnen vom Anfang des vorigen Jahrhunderts bis in die Gegenwart vor, wobei die Erzählerinnen (darunter Anneloes Timmije) uns sehr subjektive, oft ungewöhnliche Einblicke in die wechselvolle Geschichte des kleinen Landes an der Nordsee geben. (2016)