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Beitrag vom 08.10.2018
Karen Duve - Fräulein Nettes kurzer Sommer
Bärbel Gerdes
Die vielseitige und großartige Karen Duve ("Taxi", "Anständig essen") stellt in ihrem neuen Roman die junge Annette von Droste-Hülshoff und die Jugendkatastrophe ihres Lebens dar. Ganz nebenbei malt Duve in bekannt ironischer Färbung ein Panorama Deutschlands zu Beginn des 19. Jahrhunderts.
Die Novelle Die Judenbuche gehört(e) zum Lesekanon an deutschen Schulen sowie auch die Ballade Der Knabe im Moor. Dann hört es auch schon auf mit dem Wissen um Annette von Droste-Hülshoff, jene westfälische Schriftstellerin des 19. Jahrhunderts, deren Konterfei lange den 20-Mark-Schein zierte.
Viel mehr kannte Karen Duve auch nicht. Ihre Motivation zu diesem umfänglichen Roman war jedoch etwas anderes. Nachdem Droste-Hülshoff sich in jungen Jahren auf zwei Männer gleichzeitig eingelassen hatte, wurde sie fürchterlich abgestraft, erklärt Duve im Interview in der Sendung Westart: "Das war so´n Gerechtigkeitsgefühl, dass ich dachte, der armen Frau muss Gerechtigkeit geschehen. Das muss jetzt mal aufgedröselt werden".
Wie sehr Duve an Detailtreue und Realitätsnähe gelegen ist, davon zeugt das 13-seitige Literaturverzeichnis am Ende des Buches. Unglaublich viel und genau muss die Autorin recherchiert haben – und doch kommt diese Romanbiographie so leicht und unterhaltsam daher, dass ihm diese Arbeit nicht anzumerken ist.
Annette von Droste-Hülshoff wurde 1797 auf Burg Hülshoff bei Münster geboren. Aufgrund der zweiten Ehe ihres Großvaters bestand ihre Verwandtschaft aus nicht weniger als 14 Onkel und Tanten. Annette selbst hatte zwei Brüder und ihre Schwester Jenny. Sie alle redeten mit im Leben der angehenden Schriftstellerin und definierten, was gut, was schlecht, vor allem aber, was schicklich sei für ein Mädchen respektive für eine Frau.
1817 setzt der Roman ein, zwei Jahre nach dem größten Vulkanausbruch in der überlieferten Geschichte der Menschheit. Der fand auf Sumbawa, einer Insel östlich von Java statt und prägte auch das europäische Klima. Ein nicht enden wollender Regen strömte über das Land. Annette, die Nervensäge, die Neugierige, Wissbegierige wächst in unendlichen Zwängen auf, die sie jedoch nicht hinnehmen kann, selbst wenn sie es sich manchmal anders wünschte. Immer wieder mischt sie sich in die Gespräche der Männer, die sich um Literatur und Politik drehen. Mit ihrem Hämmerchen geht sie in den Steinbruch und – sie schreibt, eine völlige Unmöglichkeit. Die kränkliche und zarte junge Frau wird stets demotiviert und belacht. Eine Zumutung sei ihr Geschreibsel, wütet ihr Onkel und ihr Arzt erklärt ihr: Ihr Körper ist nicht eingerichtet, um zu denken, sondern um die große Absicht zu erfüllen, welche die Natur ihm auferlegt hat.
Die Männer um Droste-Hülshoff, all die Onkel und deren Studienfreunde, lehnen zwar ihr Gebaren als männlich ab, bewundern sie aber dennoch insgeheim für ihre Klugheit – die natürlich etwaige Eheerwartungen ausschließt.
Gerade befreit von der französischen Besatzung erstarkt der deutsche Nationalismus. Die Aufteilung zwischen Adel und Bürgertum weicht auf. Studenten demonstrieren gegen das bayerische Edikt zur Judenemanzipation. Die Industrialisierung schwappt von England hinüber auf den Kontinent, und die neuen Postwagen, diese Erfindung des Bürgertums - bringt Begriffe wie Effektivität und Ertrag in den Alltag.
Karen Duve breitet ein weites Panorama vor der Leserin aus. Mit offensichtlichem Genuss am Fabulieren nimmt sie uns mit in Spelunken und Schlösser, zu Familienunterredungen und Studentenfeiern, ins dampfige Treibhaus und ins Vogelzimmer von Annettes Vater, dessen Möbel gegen kleine Tannen, Baumstämme. Äste und Zweige ausgetauscht worden waren.
In dem bürgerlichen und mittellosen Heinrich Straube trifft Annette von Droste-Hülshoff endlich auf ein Gegenüber, das ihre schriftstellerische Leistung schätzt und ernst nimmt. Aus dem engen Herzensfreund wird bald ein um sie Werbender und ein von ihr Geliebter. Die Katastrophe nimmt durch eine furchtbare Intrige ihren Lauf.
Wie sehr Karen Duve sich mit dem Stoff auseinandergesetzt hat, zeigt sich nicht nur daran, dass sie genau an den historischen Tatsachen entlanggeschrieben hat, wie sie erzählt, sondern auch an der Sprache und Tonalität ihres Romans. Ihr Text ist auf wunderbare Weise dem 19. Jahrhundert verhaftet, ohne je imitierend oder aus unserer Zeit gefallen zu erscheinen. Wenn Annettes Großvater knurrend fragt, was denn bitte ein Ausgebranntsein sein sollte, früher hieß das Faulheit oder wenn Straube das Gefühl hat, heute glaubt jedermann nur noch das, was ihm in den Kram passt und ich bin der letzte Dummkopf, der sich von der Wirklichkeit in seinen Phantasien stören lässt, sind wir durchaus in der Gegenwart angekommen.
AVIVA-Tipp Duve porträtiert ihre Schriftstellerkollegin mit all ihren Ambivalenzen. Die Droste findet es richtig, was sie tut. Sie kann nicht schweigen. Dennoch sehnt sie sich danach, dazu zu gehören. Schwer hadert sie mit Schuld und Scham, was auch Eingang in ihre Literatur findet. Wobei es schon ein kleines Wunder ist, dass aus ihr später doch noch eine anerkannte Schriftstellerin geworden ist. Oft verplemperte [sie] ihre Zeit mit unfassbar stumpfsinnigen Arbeiten, heißt es im Epilog.
Zur Autorin: Karen Duve, 1961 in Hamburg geboren, lebt in der Märkischen Schweiz. Sie wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, 2017 mit dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor. Ihre Romane "Regenroman" (1999), "Dies ist kein Liebeslied" (2005), "Die entführte Prinzessin" (2005) und "Taxi" (2008) waren Bestseller und sind in 14 Sprachen übersetzt. 2011 erschien ihr Selbstversuch "Anständig essen", in dem sie die Frage aufwarf "Wie viel gönne ich mir auf Kosten anderer?" und damit eine breite Diskussion über Konsumverhalten auslöste. 2014 erschien Warum die Sache schiefgeht. Wie Egoisten, Hohlköpfe und Psychopathen uns um die Zukunft bringen, das kontroverse Reaktionen hervorrief. Ihr Roman Macht wurde 2016 veröffentlicht. Ihre Werke wurden mehrmals für den Deutschen Buchpreis nominiert.
Zu Annette von Droste-Hülshoff, 1797 bei Münster als Anna Elisabeth (Annette) von Droste-Hülshoff geboren, zeigte früh literarisches Talent. Bezeichnend für Annette von Droste-Hülshoffs Leben und Schaffen ist der Wechsel ihres häuslichen Lebens im Münsteraner Umland mit ihren zahlreichen Reisen. Die Heirat ihrer Schwester 1834 mit dem Freiherrn von Lassberg ermöglichten mehrere Reisen nach Meersburg am Bodensee. Meersburg wurde für Hülshoff zur zweiten Heimat, sie erwarb mit dem Honorar für ihren 1844 erschienenen Gedichtband das "Fürstenhäusle" mit Seeblick. Von ihrer letzten Reise nach Meersburg im Jahr 1846 kehrte sie nicht zurück – sie starb dort im Jahr 1848.
Weitere Infos zu Annette von Droste-Hülshoff unter: www.lwl.org
Karen Duve
Fräulein Nettes kurzer Sommer
Galiani Verlag, erschienen am 7.9.2018
592 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-86971-138-6
25,00 Euro
Mehr zum Buch: www.galiani.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Karen Duve - Warum die Sache schiefgeht. Wie Egoisten, Hohlköpfe und Psychopathen uns um die Zukunft bringen
Eigentlich wollte sie einen Zukunftsroman schreiben, doch bei ihren Recherchen stellte die Autorin von "Anständig essen" fest, dass es die Menschheit bald nicht mehr gibt. Zu ihrer Rettung reichtes nicht aus, Kröten über die Straße zu tragen, die sozial Denkenden müssen an die echten Schalthebel der Macht. Mit ihrer bitteren Polemik will sie wachrütteln und ihren Teil dazu beitragen, den Untergang unserer Welt zu verhindern, wie sie bei ihrer Buchpremiere in Berlin ausführte. (2014)
Karen Duve - Anständig Essen
Von der passionierten Alles-Konsumentin zur Fast-Veganerin: Karen Duve macht den Selbstversuch: Jeweils 2 Monate testet sie moralisch inspirierte Lebensweisen. Ein steiniger Weg, der Erkenntnis, aber auch den Abschied von vielen liebgewonnene Gewohnheiten bedeutet. (2011)
Interview mit Karen Duve
In "Taxi", einer Geschichte über das Leben der jungen Taxifahrerin Alex, verarbeitet die Autorin die eigenen Erlebnisse und Erfahrungen aus über zehn Jahren Personenbeförderung. (2008)
Karen Duve - Taxi
Taxifahren bedeutet ein Leben hinterm Lenkrad, zwischen Taxistand und Kneipe, mit Zuhältern auf dem Beifahrersitz und Omas auf der Rückbank. Schön klingt das nicht, aber amüsant ist es allemal. (2008)
Karen Duve - Die entführte Prinzessin
Der märchenhafte Roman um "Drachen, Liebe und andere Ungeheuer" ist absolut originell, komisch, gespickt mit allerhand sarkastischen Seitenhieben, herrlich romantisch, wunderbar realistisch. (2005)
Annette von Droste-Hülshoff - Die Judenbuche
Der Klassiker aus dem Jahr 1842 ist Milieustudie, Kriminalgeschichte und moralische Erzählung in einem und dokumentiert den Antisemitismus des 18. Jahrhunderts. Die Neuausgabe ist im August 2016 im Dörlemann Verlag erschienen, gebunden in allerfeinstes bedrucktes Leinen und versehen mit einem Lesebändchen. (2016)