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Beitrag vom 14.10.2018
Eshkol Nevo - Ãœber uns
Silvy Pommerenke
Die menschliche Neugier lässt uns allerhand Fantasien über unsere NachbarInnen entwickeln, die wahrscheinlich selten etwas mit der Realität zu tun haben. Der israelische Schriftsteller Eshkol Nevo ("Die einsamen Liebenden", "Neuland", "Wir haben noch das ganze Leben") nimmt uns diese Arbeit ab und gestattet uns in seinem neuen Roman "Über uns" einen Blick hinter die verschlossenen Wohnungstüren der Anderen. Dabei greift er auf Sigmund Freud zurück und gestaltet außergewöhnliche Erzählsituationen.
Das hebräische Original "Shalosh komot" heißt wörtlich übersetzt "Drei Etagen" und beschreibt eher, was in diesem Episoden-Roman zu finden ist, als dass es die deutsche Übersetzung "Über uns" vermag. Denn es geht in dem neuesten Werk von Eshkol Nevo nicht so sehr darum, was die BewohnerInnen des Hauses über ihre MitbewohnerInnen denken, sondern es sind drei eigenständige Geschichten, die nur rudimentär Verbindungen zueinander aufweisen. Vielleicht hat der Übersetzer Markus Lemke aber auch eine Abwandlung von Freuds Über-Ich im Kopf gehabt, und daraus das Über-Uns gemacht. Denn auf dem Freud´schen Strukturmodell von Ich, Es und Über-Ich basiert der Roman von Eshkol Nevo, der vor seiner Schriftstellerei in Tel Aviv Psychologie studiert hat. In Anlehnung daran gestaltet er nicht nur die Probleme der Figuren in Form von Ge- und Verboten, Kontrolle und Triebverzicht sowie dem Lustprinzip, sondern er gestaltet auch die Gesprächssituation ähnlich wie die in einer Psychoanalyse. Dabei geht es unter anderem um sexualisierte Gewalt, Ehebruch, Kriminalität oder Generationenkonflikte. Natürlich auch um Einsamkeit, Missverständnisse oder Geschlechterkampf. Und ganz nebenbei erfährt die LeserIn auch die Biografien der einzelnen Personen.
Auf den drei Etagen des Hauses in Tel Aviv wohnen Familien, alte Ehepaare und eine Witwe. Allen gemein ist, dass sie große und kleine Geheimnisse haben, denen Eshkol Nevo mitfühlend auf den Grund geht und den LeserInnen offenbart. Aber nicht nur die Geheimnisse sind ein verbindendes Moment, sondern auch, dass sie alle niemanden haben, dem sie sich anvertrauen können. So werden dafür alte Kontakte wieder aufgenommen, auch wenn sie seit Jahren keine Verbindung mehr zueinander hatten, oder es wird der Monolog an einen Verstorbenen gerichtet. Im Fall der Witwe Dvorah Edelman, die im dritten Stock wohnt, ist es so, dass sie auf den alten Anrufbeantworter spricht (als Feministin spricht sie hier von der "Anrufbeantworterin") und ihrem verstorbenen Mann Michael ihre Geheimnisse anvertraut. Dafür hat sie natürlich immer nur eine begrenzte Redezeit zur Verfügung, und sie (und die Leserin) wird so manches Mal von dem Piepton des Anrufbeantworters in dem Fluss der Erzählung unterbrochen. Ganz anders sieht es im ersten Stock aus. Arnon Levanoni sitzt mit einem uralten Freund in einem Restaurant und erzählt ihm von seinen aktuellen Sorgen. Jahrelang hatten die beiden keinen Kontakt zueinander, aber um sich psychisch zu erleichtern, hat er den alten Freund um ein Treffen gebeten. Der Freund erhält allerdings keine Stimme von Eshkol Nevo. Der Autor gestaltet den Dialog so, dass die Leserin immer nur die Worte von Arnon hört bzw. liest, nicht aber die seines Gegenübers. Fast so, als würde einem Telefongespräch gelauscht werden, wo zwar die Reaktionen des oder der Telefonierenden zu hören sind, nicht aber die Fragen oder Äußerungen der Person am anderen Ende der Leitung. Wiederum eine andere Kommunikationsform ist im zweiten Stock zu finden, wo Chani Gat einer alten Jugendfreundin einen Brief schreibt und darin ihre ganzen Sorgen und Nöte zum Ausdruck bringt.
Eshkol Nevo gestattet uns einen Blick durchs Schlüsselloch in die Wohnungen und in die Leben der MitbewohnerInnen des dreigeschossigen Hauses. Ein Blick, der Probleme sichtbar macht, die manchmal banal scheinen, manchmal auch unlösbar sind. Es ist aber vor allem ein liebevoller Blick auf die Figuren, der sie niemals bloßstellt.
AVIVA-Tipp: Eshkol Nevo hat mit "Über uns" ein ungewöhnliches Szenario entwickelt, in dem sich drei Figuren - ähnlich wie in einer Psychoanalyse – mit ihren Problemen und Geheimnissen über das Reden darüber auseinandersetzen und dadurch zur Läuterung kommen (oder auch keine Läuterung erfahren). Ein großartiger literarischer Kniff, der einfach nur Freude beim Lesen macht. Und wie schon bei "Neuland" zieht sich eine zarte Melancholie durch den Roman und Eshkol Nevo zeichnet eine Spannungskurve, die es schwerfallen lässt, das Buch zur Seite zu legen.
Zum Autor: Eshkol Nevo, geboren 1971 in Jerusalem, gehört heute zu den wichtigsten Schriftstellern seines Landes. Sein erster Roman "Vier Häuser und eine Sehnsucht" stand 2005 auf der Shortlist des bedeutendsten Literaturpreises in Israel, dem Sapir Preis, 2008 wurde er in Frankreich mit dem Raymond Wallier Preis des Salon du Livre ausgezeichnet, 2009 war er auf der Longlist des Independent Prize. "Wir haben noch das ganze Leben", sein zweiter Roman (Golden Book Prize, Israel 2007, Adei Wizo Preis, Italien 2011), war nicht nur in Israel, sondern auch in Deutschland ein Bestseller. Sein Roman "Neuland" verkaufte sich in Israel über 130.000 Mal und gewann 2012 als "Book of the Year" den Steimatzky Preis. 2018 erschien, wiederum mit großer Aufmerksamkeit, sein Roman "Über uns" in Deutschland. Eshkol Nevo lebt mit seiner Frau und seinen drei Töchtern in Ra´anana / Israel. (Quelle: Verlagsinformationen)
Mehr Infos unter "The Institute for the Translation of Hebrew Literature (ITHL)": www.ithl.org.il
Zum Übersetzer: Markus Lemke, geboren 1965, studierte Orientalistik und Islamwissenschaften in Bochum, Kairo und Tel Aviv und übersetzt seit 1995, darunter u. a. Werke von Eshkol Nevo, Yoram Kaniuk und Joshua Sobol. 2000 und erneut 2004 erhielt er den Hamburger Übersetzerpreis. (Quelle: Verlagsinformationen)
Eshkol Nevo
Ãœber uns
Originaltitel Shalosh komot
dtv, erschienen Januar 2018
Gebunden mit Schutzumschlag, 320 Seiten, mit Lesebändchen
Ãœbersetzt von Markus Lemke
ISBN 978-3-423-28131-7
Euro 22,00
Mehr zum Buch unter: www.dtv.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Eshkol Nevo - Die einsamen Liebenden
"Stadt der Gerechten", so nennt Eshkol Nevo den fiktiven Ort in Israel, in der Menschen aus verschiedenen Ursprungsmilieus, überwiegend aber Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion ohne großen Bezug zur Religion leben. Die Stadt wird zum Schauplatz einer skurrilen Darbietung, als ein amerikanischer Jude sich in den Kopf setzt, dort eine Mikwe, ein rituelles Tauchbad, zu errichten. (2016)
Eshkol Nevo - Neuland
Nach seinen beiden ersten, in Israel angesiedelten Romanen, beleuchtet Eshkol Nevo in seinem neuen Buch die krisenerprobte israelische Gesellschaft aus einer eher ungewöhnlichen Perspektive. Neuland wirft vor allem die Frage auf, welche Auswirkungen die nicht enden wollenden kriegerischen Auseinandersetzungen auf die Zivilgesellschaft in Israel haben. Der Roman findet, nur scheinbar widersprüchlich, die Antwort größtenteils in Südamerika. (2013)
Eshkol Nevo - Wir haben noch das ganze Leben
Vier Zettel, zwölf Wünsche und zwei Weltmeisterschaften. In seinem neuen Roman erzählt Eshkol Nevo von Plänen, die das Leben durchkreuzen und von den Freunden, die einen wieder aufbauen, wenn alles schiefgeht. (2010)