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Beitrag vom 16.12.2018
Hedwig Richter und Kerstin Wolff (Hg.): Frauenwahlrecht. Demokratisierung der Demokratie in Deutschland und Europa
Isabel Rohner
Pünktlich zum 100. Jubiläum des aktiven und passiven Frauenwahlrechts in Deutschland legen die beiden Historikerinnen Hedwig Richter und Kerstin Wolff einen perspektivenreichen wissenschaftlichen Sammelband zum Thema vor und machen deutlich: Demokratiegeschichte ohne Frauengeschichte funktioniert nicht.
Jubiläen, die in besonderer Weise Frauen betreffen oder gar das Wort "Frau" im Titel tragen – wie dies bei 100 Jahre Frauenwahlrecht der Fall ist – sind nicht automatisch sichtbar. Oft hängt es an engagierten Einzelpersonen oder einzelnen Einrichtungen, dass so ein Thema überhaupt in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Es ist eben nicht so wie bei Karl Marx, dessen 200. Geburtstag allein von seiner Geburtsstadt Trier mit über 300 (!) Veranstaltungen gefeiert wird. Umso erfreulicher, dass das Frauenwahlrechtsjubiläum in der zweiten Jahreshälfte 2018 spürbar an Fahrt aufgenommen hat, bundesweit Veranstaltungen stattfanden und auch mehrere Bücher zum Thema publiziert wurden.
"Es gibt keine Demokratie ohne die Frauen", schrieb Khalida Messaoudi einmal. Wie sehr jedoch die Geschichte der Demokratie(n) als Männergeschichte, als Geschichte von "wehenden Fahnen und geballten Fäusten" erzählt und inszeniert wird, führen die Historikerinnen Hedwig Richter und Kerstin Wolff schon in der Einleitung ihres Buchs vor Augen. So ist auch zu erklären, weswegen die Geschichte der Frauenbewegungen in vielen Demokratiegeschichten schlicht außen vor gelassen wurde und noch immer wird.
Wie wichtig ein genaueres Hinsehen und wie vielfältig aktuelle Forschungsfragen rund um das Thema Frauenwahlrecht sind, zeigen Richter/Wolff und neun weitere Forscherinnen und Forscher im vorgelegten Sammelband, der, gegliedert in die Rubriken "Raum", "Körper" und "Sprechen", viele spannende Einblicke und Erkenntnisse liefert:
So arbeitet Kerstin Wolff in ihrem Beitrag "Noch einmal von vorn und neu erzählt" heraus, wie stark die Wahrnehmung der Frauenbewegungen und des Frauenwahlrechtskampfes selbst in der Forschung von Vorurteilen und Fehlinterpretationen geprägt ist. Birgitta Bader-Zaar nimmt die Partizipations- und Gestaltungsmöglichkeiten von Frauen auf kommunaler und regionaler Ebene im 19. Jahrhundert in den Blick und führt vor Augen, dass einige – zumeist vermögende – Frauen durchaus bereits damals ein kommunales Wahlrecht hatten. Marion Röwekamp erklärt, weswegen in manchen Ländern Witwen und unverheiratete Frauen früher das Wahlrecht bekamen als verheiratete, und Malte König analysiert die Wechselwirkung zwischen Frauenwahlrecht und dem Kampf gegen Prostitution.
Zu den Autorinnen:
Hedwig Richter, PD Dr. phil., Historikerin, ist seit 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe Demokratie und Staatlichkeit am Hamburger Institut für Sozialforschung.
Mehr Infos: www.hamburger-edition.de
Kerstin Wolff, Dr. phil., ist seit 1999 Forschungsleiterin im Archiv der deutschen Frauenbewegung in Kassel. Sie ist Redakteurin der historischen Fachzeitschrift der Stiftung Archiv der deutschen Frauenbewegung, »Ariadne – Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte«, Mitglied in der IAG Frauen- und Geschlechterforschung an der Universität Kassel, Vorstandsmitglied des Arbeitskreises historische Frauen- und Geschlechterforschung e.V. und Mitglied im AK hessische Zeitgeschichte sowie im AK Geschlechterbewegung.
Mehr Infos: www.hamburger-edition.de
AVIVA-Tipp: "Frauenwahlrecht. Demokratisierung der Demokratie in Deutschland und Europa" ist ein facettenreicher und erhellender Sammelband, der in der Breite seiner enthaltenen Forschungsthemen auch deutlich macht, wie wichtig und notwendig Grundlagenforschung und ihre Förderung für die Demokratiegeschichte sind. Denn durch die viel zu lange Fokussierung auf die Geschichte kämpfender Männer wartet so mancher Aspekt bis heute auf seine wissenschaftliche Erforschung. Ein Band für historisch Interessierte und – ganz dringend! – für die Wissenschaftscommunity.
Hedwig Richter und Kerstin Wolff (Hg.)
Frauenwahlrecht. Demokratisierung der Demokratie in Deutschland und Europa
Hamburger Edition, erschienen im August 2018
296 Seiten, gebunden
30,00 Euro (Print)
ISBN 978-3-86854-323-0
Mehr zum Buch: www.hamburger-edition.de
Mehr zum Thema:
100 Jahre Frauenwahlrecht - Ziel erreicht?
Ein Gespräch des WDR über Frauenrechte und Frauenwahlrecht mit der Germanistin Dr. Isabel Rohner (der Rezensentin von "Frauenwahlrecht. Demokratiesierung der Demokratie in Deutschland und Europa" und "1919 – Das Jahr der Frauen") und Bettina Bab vom Frauenmuseum Bonn.
Das Gespräch ist in der ARD-Mediathek verfügbar bis zum 20.08.2023 und kann unter folgendem Link abgerufen werden: www.ardmediathek.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Unda Hörner - 1919. Das Buch der Frauen
1919 durften die Frauen in Deutschland zum ersten Mal wählen – und auch sonst war es ein Jahr des Aufbruchs, in dem alles wieder möglich schien. Unda Hörner ("Ohne Frauen geht es nicht. Kurt Tucholsky und die Liebe", "Berliner Luft – Pariser Leben") zieht ihre Leserinnen und Leser mitten hinein in dieses besondere erste Nachkriegsjahr und nimmt sie mit in das Leben außergewöhnlicher Frauen in Berlin, Weimar, Wien und Paris. (2018)
"100 Jahre Frauenwahlrecht. Ziel erreicht - und weiter?" Herausgegeben von Isabel Rohner und Rebecca Beerheide
Schluss mit den Trippelschritten. Im November 1918 erhielten die Frauen gegen heftige Wiederstände das aktive und passive Wahlrecht. Eine feministische Emanzipationsgeschichte, ein leidenschaftlicher Prozess, der hartnäckig und zäh bis heute weitergeführt wird. Ein perspektivenreicher und politisch brandaktueller Sammelband mit Beiträgen von einflussreichen Frauen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien. (2017)
Die göttliche Ordnung. Ein Film von Petra Volpe mit Marie Leuenberger Kamera: Judith Kaufmann. Filmmusik: Annette Focks. Ab 01. Dezember 2017 als DVD, Blu-ray und DIGITAL
2018 feiert Deutschland 100 Jahre Frauenwahlrecht, die Schweiz dagegen liegt mit dessen Einführung 1971 an drittletzter Stelle in Europa. Die Regisseurin und Drehbuchautorin Petra Volpe inszenierte aus den Kämpfen der Schweizer Frauen um das Stimmrecht einen liebevollen und kampflustigen Spielfilm, der unzweifelhaft zeigt: das Private ist politisch.
Die Suffragetten. Sie wollten wählen - und wurden ausgelacht. Herausgegeben von Antonia Meiners
Vor fast 100 Jahren haben sich die Suffragetten, wie sie despektierlich genannt wurden, aufgelehnt gegen unwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen von Frauen. Sie forderten für alle Frauen das uneingeschränkte Wahlrecht, sie wurden dafür verspottet, gedemütigt und verhaftet. Diese Frauen hatten Mut, Kampfgeist und eine klare Vorstellung von nicht verhandelbaren Werten. Das macht ihr Handeln so aktuell. (2016)
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In ihrer Radikalisierung riskierten sie, alles zu verlieren – ihre Arbeit, ihr Heim, ihre Kinder und ihr Leben. Maud war eine dieser mutigen Frauen. Der Film um die "Women´s Social and Political Union" erzählt die Geschichte des Kampfes um Würde und Selbstbestimmung. (2016)
Jutta Limbach - Wahre Hyänen. Pauline Staegemann und ihr Kampf um die politische Macht der Frauen
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