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Beitrag vom 18.02.2019
Kerstin Wolff - Unsere Stimme zählt. Die Geschichte des deutschen Frauenwahlrechts
Isabel Rohner
Als die Frauen in Deutschland 1918 endlich das aktive und passive Wahlrecht bekamen, war dies keine Überraschung. Spätestens seit der Französischen Revolution wurde es immer wieder gefordert, Frauen haben lange und erbittert für ihr politisches Mitspracherecht gekämpft. Die Historikerin Kerstin Wolff zeichnet diese spannende Geschichte nach und rückt die Akteurinnen der Frauen(wahlrechts)bewegungen in den Mittelpunkt.
"Jede Frau ändert sich, wenn sie erkennt, dass sie eine Geschichte hat." Dieses Zitat der amerikanisch-österreichischen Historikerin Gerda Lerner bringt es auf den Punkt. Wenn wir die Geschichte der Frauenbewegungen und ihre Akteurinnen nicht kennen, fehlt uns eine wichtige Grundlage für das Verstehen unserer Gegenwart und das Gestalten unserer Zukunft.
Ich bin sicher: Wären die damaligen Kämpferinnen für gleiche Bildung und Berufschancen, für ökonomische Unabhängigkeit und Gleichberechtigung der Geschlechter keine Frauen, sondern Männer gewesen – wir alle würden sie heute kennen. Ihre Geschichte würde in den Schulen gelehrt, sie wären im Stadtbild in Straßennamen, Parks und Gedenkorten sichtbar – und in den beiden Jubiläumsjahren des Frauenwahlrechts 2018 (am 30. November 1918 wurde das freie und gleiche Wahlrecht für Männer und Frauen Gesetz) und 2019 (am 19. Januar 1919 fand die erste Wahl statt) hätten wir jeden Tag in den Medien von ihren Verdiensten lesen können. Der Haken: Es waren Frauen. Und die Verdienste von Frauen werden leider niemals "automatisch" und "einfach so" sichtbar gemacht. Es wird als lästig und überflüssig empfunden, daran zu erinnern, dass Männer und Frauen rechtlich, sozial und ökonomisch sehr unterschiedliche Geschichten haben.
Aber: Louise Otto-Peters, Jenny Hirsch, Hedwig Dohm, Helene Lange, Gertrud Bäumer, Clara Zetkin, Anita Augspurg, Lida Gustava Heymann, Minna Cauer, Marie Stritt, Rosa Luxemburg, Marie Juchacz und die vielen, vielen mehr – sie alle waren Frauen. Und viele der Themen, für die sie gestritten haben, sind bis heute aktuell: Die politische, soziale und ökonomische Gleichberechtigung von Männer und Frauen, wie sie von Hedwig Dohm bereits in den 1870er Jahren gefordert wurde, ist auch in Deutschland 2019 noch lange nicht erreicht.
Das Buch von Kerstin Wolff – sie leitet die Forschungsabteilung im Archiv der deutschen Frauenbewegung (AddF) in Kassel – ist daher gleich doppelt wichtig. In "Unsere Stimme zählt" nimmt sie ihre Leserinnen mit in die Geschichte. Den Kampf ums Frauenwahlrecht verknüpft sie mit den Biografien zentraler Akteurinnen und schildert ihn im Kontext der unterschiedlichen Strömungen in der Frauenbewegung. Auch den Gegnern des Frauenstimmrechts und ihren über Jahrzehnte immer wieder mantrahaft vorgebrachten Argumenten – u.a. "Die Frauen wollen das Stimmrecht doch gar nicht" – widmet sie ein eigenes Kapitel. Einige Argumente der damaligen Antifeministen erinnern dabei verblüffend an aktuelle Debatten.
Wolffs reich bebildertes Buch ist für ein breites Publikum geschrieben und eignet sich für jüngere und ältere Leserinnen und Leser auch gut zum Einstieg in die Geschichte der Frauenbewegungen.
AVIVA-Tipp: Als Dohm-Biografin und Mitherausgeberin von Dohms Gesamtwerk kann ich mir allerdings eine Kritik nicht verkneifen, diese gilt jedoch dezidiert nicht der Autorin, sondern dem Verlag: S. 42 zeigt nicht die feministische Pionierin Hedwig Dohm (1831-1919), sondern ihre Tochter Hedwig Pringsheim-Dohm (1855-1942), die Mutter von Katia Mann (1883-1980). Und mein Name schreibt sich nicht mit Doppel-L (lässt sich einfach merken: Ich beiße, aber ich bell nicht).
Ansonsten: Lesenswert!
Zur Autorin: Kerstin Wolff, Dr. phil., ist seit 1999 Forschungsleiterin im Archiv der deutschen Frauenbewegung in Kassel. Sie ist Redakteurin der historischen Fachzeitschrift der Stiftung Archiv der deutschen Frauenbewegung, »Ariadne – Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte«, Mitglied in der IAG Frauen- und Geschlechterforschung an der Universität Kassel, Vorstandsmitglied des Arbeitskreises historische Frauen- und Geschlechterforschung e.V. und Mitglied im AK hessische Zeitgeschichte sowie im AK Geschlechterbewegung.
Mehr Infos unter: www.addf-kassel.de und www.akgeschlechtergeschichte.de
Kerstin Wolff
Unsere Stimme zählt! Die Geschichte des deutschen Frauenwahlrechts
Bast Medien, erschienen 2018
158 Seiten
19,90 Euro
Mehr zum Buch unter: www.buero-bast.de
Mehr zum Thema:
100 Jahre Frauenwahlrecht - Ziel erreicht?
Ein Gespräch des WDR über Frauenrechte und Frauenwahlrecht mit der Germanistin Dr. Isabel Rohner (der Rezensentin von "Unsere Stimme zählt! Die Geschichte des deutschen Frauenwahlrechts", "Frauenwahlrecht. Demokratisierung der Demokratie in Deutschland und Europa" und "1919 – Das Jahr der Frauen" auf AVIVA-Berlin, sowie Mitherausgeberin von "100 Jahre Frauenwahlrecht. Ziel erreicht - und weiter?" und Mitherausgeberin von Hedwig Dohms Gesamtwerk) und Bettina Bab vom Frauenmuseum Bonn.
Das Gespräch ist in der ARD-Mediathek verfügbar bis zum 20.08.2023 und kann unter folgendem Link abgerufen werden: www.ardmediathek.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Hedwig Richter und Kerstin Wolff (Hg.): Frauenwahlrecht. Demokratisierung der Demokratie in Deutschland und Europa
Pünktlich zum 100. Jubiläum des aktiven und passiven Frauenwahlrechts in Deutschland legen die beiden Historikerinnen Hedwig Richter und Kerstin Wolff einen perspektivenreichen wissenschaftlichen Sammelband zum Thema vor und machen deutlich: Demokratiegeschichte ohne Frauengeschichte funktioniert nicht. (2018)
Unda Hörner - 1919. Das Buch der Frauen
1919 durften die Frauen in Deutschland zum ersten Mal wählen – und auch sonst war es ein Jahr des Aufbruchs, in dem alles wieder möglich schien. Unda Hörner ("Ohne Frauen geht es nicht. Kurt Tucholsky und die Liebe", "Berliner Luft – Pariser Leben") zieht ihre Leserinnen und Leser mitten hinein in dieses besondere erste Nachkriegsjahr und nimmt sie mit in das Leben außergewöhnlicher Frauen in Berlin, Weimar, Wien und Paris. (2018)
"100 Jahre Frauenwahlrecht. Ziel erreicht - und weiter?" Herausgegeben von Isabel Rohner und Rebecca Beerheide
Schluss mit den Trippelschritten. Im November 1918 erhielten die Frauen gegen heftige Wiederstände das aktive und passive Wahlrecht. Eine feministische Emanzipationsgeschichte, ein leidenschaftlicher Prozess, der hartnäckig und zäh bis heute weitergeführt wird. Ein perspektivenreicher und politisch brandaktueller Sammelband mit Beiträgen von einflussreichen Frauen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien. (2017)
Die göttliche Ordnung. Ein Film von Petra Volpe mit Marie Leuenberger Kamera: Judith Kaufmann. Filmmusik: Annette Focks. Ab 01. Dezember 2017 als DVD, Blu-ray und DIGITAL
2018 feiert Deutschland 100 Jahre Frauenwahlrecht, die Schweiz dagegen liegt mit dessen Einführung 1971 an drittletzter Stelle in Europa. Die Regisseurin und Drehbuchautorin Petra Volpe inszenierte aus den Kämpfen der Schweizer Frauen um das Stimmrecht einen liebevollen und kampflustigen Spielfilm, der unzweifelhaft zeigt: das Private ist politisch.
Die Suffragetten. Sie wollten wählen - und wurden ausgelacht. Herausgegeben von Antonia Meiners
Vor fast 100 Jahren haben sich die Suffragetten, wie sie despektierlich genannt wurden, aufgelehnt gegen unwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen von Frauen. Sie forderten für alle Frauen das uneingeschränkte Wahlrecht, sie wurden dafür verspottet, gedemütigt und verhaftet. Diese Frauen hatten Mut, Kampfgeist und eine klare Vorstellung von nicht verhandelbaren Werten. Das macht ihr Handeln so aktuell. (2016)
Suffragette. Taten statt Worte. Ein Film von Sarah Gavron. DVD- und Blu-ray-Release: 16. Juni 2016
In ihrer Radikalisierung riskierten sie, alles zu verlieren – ihre Arbeit, ihr Heim, ihre Kinder und ihr Leben. Maud war eine dieser mutigen Frauen. Der Film um die "Women´s Social and Political Union" erzählt die Geschichte des Kampfes um Würde und Selbstbestimmung. (2016)
Jutta Limbach - Wahre Hyänen. Pauline Staegemann und ihr Kampf um die politische Macht der Frauen
Oft wurde die am 10. September 2016 verstorbene ehemalige Berliner Justizsenatorin und erste Frau an der Spitze des Bundesverfassungsgerichts Jutta Limbach in ihrem Berufsleben nach Vorbildern gefragt. Eines war ihre Urgroßmutter, das ehemalige Dienstmädchen Pauline Staegemann. Deren Devise lautete: "Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt." (2016)