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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 05.04.2019


Kristina Hänel - Das Politische ist persönlich. Tagebuch einer »Abtreibungsärztin«
Saskia Balser

Kristina Hänel dokumentiert in ihrem Tagebuch, wie die Anklage gemäß §219a StGB sie dazu brachte, der frauenfeindlichen und veralteten Gesetzgebung den Kampf anzusagen. Sie ging an die Öffentlichkeit und trägt mit ihrem Buch einen wesentlichen Teil zur Diskussion um das Recht auf Information und auf Selbstbestimmung bei.




Der Buchumschlag von "Das Persönliche ist politisch" zeigt einen Ausschnitt aus einer der zahlreichen Demonstrationen, die in letzter Zeit, vor allem am 8. März, stattgefunden haben. Es sind Demonstrationen, die Frauen vereinen und gemeinsam stark machen. So auch in Gießen, dem Ort, in dem sich die Praxis der Ärztin Kristina Hänel befindet.

Nicht nur in den Lokalnachrichten tauchte der Name Hänel nach der umstrittenen Anklage immer wieder auf. Innerhalb weniger Wochen schlug die Debatte um die sogenannte "Abtreibungsärztin" hohe Wellen. Angefangen bei der amtsgerichtlichen Vorladung im August 2017 bis hin zur Urteilsverkündung des Landesgerichts Gießen im Oktober 2018 berichtet Hänel chronologisch sowohl von Rückschlägen, die sie erleiden musste, als auch von Erfolgen, die sie nach diesem turbulenten Jahr verzeichnen kann.

Seit 1981 arbeitet Kristina Hänel als approbierte Ärztin, ihr fachliches Spektrum ist auf ihrer Homepage www.kristinahaenel.de nachzulesen:
"Mit großem Engagement und persönlichem Einsatz beschäftige ich mich mit den Themen Frauengesundheit, Sexualität, Familienplanung, Schwangerschaft, Geburt und Schwangerschaftsabbruch."
Diese Worte sind es, die als öffentliche "Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft" verstanden und von sogenannten "Abtreibungsgegner*innen" als Anlass genommen wurden, Hänel anzuzeigen. In ihrem Tagebuch schildert sie, wie unpassend sie den Begriff "Werbung" in diesem Zusammenhang findet. Es sei ja schließlich niemand für eine Abtreibung, sie als Ärztin wolle allen Patientinnen helfen, die zu ihr kommen und mit ihnen gemeinsam eine Lösung finden.

Sich im Falle einer Schwangerschaft über verschiedene Möglichkeiten informieren zu können, versteht Hänel als Grundrecht jeder Frau. In ihrer eigens gestarteten Petition bei change.org von Oktober 2017 macht sie darauf aufmerksam:
"Ich bin für das Recht von Frauen, sich im Internet über angebotene Leistungen von Ärzten und Ärztinnen zum Schwangerschaftsabbruch zu informieren. Informationsrecht ist ein Menschenrecht. Der §219a behindert dieses Recht."

Die Petition, die täglich an Unterschriften gewinnt, setzte Hänel in den Fokus der Öffentlichkeit. Ihr folgten eine Anfrage von Stern-TV, zahlreiche Presseinterviews und Kundgebungen – Hänel ist sich sicher: "Öffentlichkeit ist ohnehin das Beste bei so einem Geheimhaltungsparagrafen."

Im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, bedeutet aber auch, Anfeindungen und Vorwürfen ausgesetzt zu sein, wie Hänel schnell feststellen muss. Immer wieder muss sie sich für ihr Verhalten rechtfertigen und wird von Abtreibungsgegner*innen wie der "INITIATIVE NIE WIEDER" e.V. und der Website babycaust.de als "Abtreibungsärztin" beschimpft und denunziert.
Doch Hänel bleibt standhaft. Auch bei der Verurteilung zu 6.000€ Geldstrafe am 24. November 2017 ist sie tapfer. Als sie das Gerichtsgebäude verlässt, ist sie ergriffen von den vielen Frauen, die dort auf sie warten:
"Darauf bin ich nicht vorbereitet, ein überraschender, schöner Moment! Ich erhebe spontan meine Fäuste. Ich werde nicht aufgeben. Gewiss nicht."

Aus diesem Grund legte sie Berufung ein, weshalb der Fall am 12. Oktober 2018 durch das Landesgericht Gießen erneut geprüft wurde.
Bei dem Prozess, auf den Hänel monatelang hingearbeitet hat, ging es für sie darum, einen Diskurs zu bilden, über die Frage, ob der Paragraf 219a mit dem Grundgesetz vereinbar ist oder nicht. Richter Dr. Nink, so Hänel, sei dazu bereit gewesen und vertrat die Meinung, das Gesetz gehöre geändert. Weil er das Gesetz aber nicht ändern könne, bestätigte er das Urteil des Amtsgerichts. Und dennoch ermutigte er sie:
Sie müssen dieses Urteil tragen wie einen Ehrentitel im Kampf um ein besseres Gesetz.

Nachdem das Urteil gefällt ist, kündigt Hänels Anwalt Dr. Karlheinz Merkel Revision beim Oberlandesgericht Frankfurt an, dieser Prozess steht noch aus.
Über eine mögliche Änderung des Paragrafen wird ebenfalls immer noch debattiert. Ein ergänzter §219a, wie ihn sich CDU- und SPD- Politiker*innen vorstellen, würde an der "Causa Hänel" allerdings nichts ändern. Die Ärztin könnte weiterhin angezeigt werden.
Bis zur vollständigen Abschaffung des Paragrafen, scheint es noch ein langer Weg zu sein, doch Kristina Hänel ist sich sicher, dass sich die Mühe lohnt:
"Das Frauenwahlrecht kam nicht an einem Tag, aber es war nicht aufzuhalten. Die Informationsfreiheit zum Schwangerschaftsabbruch und das Recht der Frau, über ihren Körper zu entscheiden, kommen auch nicht an einem Tag, aber die Bewegung wird nicht aufzuhalten sein."

Ihr persönlicher Einsatz wird honoriert: Nachdem Kristina Hänel bereits im März 2018 mit dem Clara-Zetkin-Preis ausgezeichnet wurde, erhielt sie im März 2019 gemeinsam mit Natascha Nicklaus und Nora Szász auch den Anne-Klein-Frauenpreis der Heinrich-Böll-Stiftung. Dieser ehrt das besondere Engagement und die Standhaftigkeit der Ärztinnen in Bezug auf die Verteidigung des Informationsrechts von Frauen.

Unterstützung bekommt Hänel von vielen Seiten, auch von der ehemaligen Fernsehjournalistin und Politikerin Luc Jochimsen. Sie blickt im Vorwort des Buches zurück auf die Bewegung "Wir haben abgetrieben!", welche im Juni 1971 von EMMA-Gründerin Alice Schwarzer initiiert wurde und an der sie selbst teilnahm. Diese Aktion richtete sich gegen den § 218, welcher im Jahr 1992 schließlich geändert wurde. Den § 219a haben die Aktivistinnen damals in ihrem Kampf wohl übersehen, so Jochimsen. Deshalb geht er jetzt weiter - mit Hänel.

AVIVA-Tipp:Dr. Kristina Hänel gelingt es mit ihrem Tagebuch, ein breites Publikum anzusprechen und über ein topaktuelles, wichtiges Thema zu informieren. Mit einfacher Sprache und den privaten Anekdoten, die sie erzählt, beweist sie, was der Titel des Buches bereits vorwegnimmt: Das Politische ist persönlich.

Kristina Hänel
Das Politische ist persönlich. Tagebuch einer »Abtreibungsärztin«

Mit einem Vorwort von Luc Jochimsen und Anmerkungen von Thomas Vallée
Argument Verlag, erschienen am 18. März 2019
Broschur, 238 Seiten
Lektorat und Satz: Iris Konopik
ISBN: 978-3-86754-513-6
15 Euro
Mehr zum Buch unter: www.argument.de

Kristina Hänel bei ihrer Kampagne für ein "Informationsrecht für Frauen zum Thema Schwangerschaftsabbruch" auf Change.org unterstützen:

www.change.org

Kristina Hänel nach dem Urteil:

www.change.org

www.facebook.com

Unterstützer*innen

Das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung ist ein breites Bündnis aus Beratungsstellen, verschiedener feministischer und allgemeinpolitischer Gruppen, Verbänden, Gewerkschaften und Parteien sowie Einzelpersonen. Gegründet wurde es 2012 und organisiert seither Proteste gegen den jährlich stattfindenden, bundesweiten "Marsch für das Leben" (vormals "1000-Kreuze-Marsch").

Mehr Infos und Initiativen unter:

www.sexuelle-selbstbestimmung.de und www.twitter.com/prochoice_de

Social Media #wegmit219a #sexuelleselbstbestimmung: www.facebook.com/PRO.Familienplanung

Marsch für das Leben? What the Fuck @1000KreuzeWTF: www.facebook.com/1000KreuzeWTF

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Für die Streichung von § 219a StGB. Hintergründe und Stimmen zum Urteil zur Reform des Paragraphen 219a gegen die Frauen und Dr. Kristina Hänel. Es reicht! Petition zu §219a wieder geöffnet
Das Eckpunktepapier zur "Verbesserung der Information und Versorgung in Schwangerschaftskonflikten" der Bundesregierung ist ein Schlag ins Gesicht aller Frauen. Chronik einer frauenfeindlichen Gesetzgebung im 21. Jahrhundert: Die Ärztin Kristina Hänel hatte auf ihrer Webseite über einen legalen Schwangerschaftsabbruch informiert. Laut §219a StGB ist das verboten und wird als "Werbung" gehandelt. Radikale Abtreibungsgegner*innen hatten Kristina Hänel angezeigt. (2019)

Skandalurteil. Kristina Hänel verurteilt - Kampagne für ein Informationsrecht für Frauen zum Thema Schwangerschaftsabbruch auf Change.org unterstützen
Die Ärztin ermöglicht es Interessierten auf ihrer Webseite über einen Link, Informationen zu einem legalen Schwangerschaftsabbruch zu erhalten. Laut §219a StGB ist das verboten. Auf dieser Basis wurde Kristina Hänel von Abtreibungsgegner*innen angezeigt, von der Staatsanwaltschaft angeklagt und am 24. November 2017 vom Amtsgericht Gießen zu 40 Tagessätzen à 150 € verurteilt. Das nimmt sie so nicht hin. Nächster Stopp: Revision am Landgericht Gießen. (27.11.2017)


Literatur

Beitrag vom 05.04.2019

AVIVA-Redaktion