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Beitrag vom 09.04.2019
Marion Brasch - Lieber woanders
Silvy Pommerenke
Marion Brasch, vielen bekannt als Moderatorin von radioeins, setzt sich in ihrem neuesten Roman über Zufall, Schicksal, Vorherbestimmung oder Glück und Trauer auseinander. Durchaus tragischer Stoff, den sie mit leichter Hand auf knapp 160 Seiten ausbreitet.
Marion Brasch beginnt ihren Roman mit äußerst detaillierten Angaben zu Zeit, Raum und Handlung – es sind die drei Aristotelischen Einheiten, die in der Literatur selten so genau angegeben werden. Aus der Psychologie ist allgemein bekannt, dass die Visualisierung – in diesem Fall für die Leser*in - umso besser funktioniert, desto genauer diese Angaben sind. Also lassen wir uns ein auf das Abenteuer von Toni und Alex, die sich (zu Beginn des Romans) noch nicht kennen, aber unweigerlich aufeinander zustreben. Dass die Autorin zwei Namen für die Protagonist*innen gewählt hat, die keinem Gender eindeutig zugeordnet werden können, ist ebenfalls klug ausgedacht, auch dadurch erhält die Geschichte eine größere Universalität.
Während Toni einen alternativen Lebensstil im Wohnwagen auf dem Land führt und aushilfsweise in der Dorfkneipe kellnert, ist ihr größter Wunsch, einen Verlag für ihre Bildergeschichten zu finden und nach Neuseeland zu reisen. Vor allem aber möchte sie die dunklen Schatten ihrer Vergangenheit loswerden und den Tod ihres Bruders vergessen, für den sie sich – ungerechtfertigterweise – verantwortlich fühlt. Auch Alex führt einen eher unkonventionellen Lebensstil, denn er ist Roadie bei einer Rockband und liebt es, on the road zu sein. Neben Frau und Tochter hat er noch eine Geliebte, von der die Frau natürlich nichts ahnt, und von der er selbst nicht so genau weiß, ob er glücklich mit ihr ist, oder ob er sich lieber trennen soll.
Alex und Toni haben sich bislang noch nicht kennengelernt, aber Marion Brasch lässt sie in ihrem Roman immer wieder fast aufeinandertreffen. Aber auch nur fast, denn sie nehmen sich zwar aus den Augenwinkeln wahr, ihre Wege kreuzen sich durchaus, aber die Autorin gönnt ihnen keine Begegnung. Noch nicht. Erst auf den letzten Seiten kommt das erlösende Zusammentreffen der beiden, das rein zufällig geschieht aber doch nachhaltige Wirkung hat…
Marion Brasch setzt sich mit dem großen Thema des Zufalls auseinander. Wie sehr wir Menschen tatsächlich willentlich unsere Pläne umsetzen, oder ob nicht vieles in unserem Leben Schicksal ist. Fragen, die kaum beantwortet werden können, denn es gibt hierfür keine Kausalität, das Schicksal ist statistisch nicht verifizierbar. Ein wenig erinnert der Roman an den Film "Lola rennt" von Tom Tykwer mit der großartigen Franka Potente in der Hauptrolle, der sich des gleichen Themas angenommen hatte, dem Schmetterlingseffekt. Was wäre gewesen, wenn Toni fünf Minuten später aus dem Haus gegangen wäre? Was wäre gewesen, wenn Alex nicht unter Zeitdruck gestanden hätte? Die Autorin lässt diese Fragen offen, regt aber zum Nachdenken an über den Irrglauben, das Leben planen zu können. Und Marion Brasch wäre nicht Marion Brasch, wenn sie dieses tiefsinnige Thema schwer verdaulich für die Leser*in aufbereitete, sondern mit leichter Feder und viel Humor darstellt.
Auch handwerklich hat sie einige Kniffe aus der schriftstellerischen Trickkiste gezogen. Nicht nur, dass sie die Leser*in direkt anspricht, wie oben bereits erwähnt, vielmehr meldet sich die auktoriale Stimme immer wieder zwischen den Kapiteln, fügt weitere Informationen zur Geschichte hinzu, mäandert ein wenig abseits des eigentlichen Plots, kehrt aber immer wieder zu ihren beiden Protagonist*innen zurück. Dafür benutzt sie unter anderem Elemente des magischen Realismus und betritt zwischendurch das Land der Märchen und der Fantasie.
Einzig schade ist nur, dass die Geschichte so kurz geraten ist. Nach knapp 150 Seiten ist der Spaß schon vorbei. Vor allem, weil das Ende dann doch recht abrupt und überraschend kommt. Da aber Toni eine Nebenfigur aus dem früheren Brasch-Roman "Wunderlich fährt nach Norden" ist, kann es ja sein, dass "Lieber woanders" weitergeschrieben wird, und eine weitere Nebenfigur zur Hauptfigur erkoren wird.
Marion Brasch wuchs in der DDR auf, hat jüdische Wurzeln und nach eigenen Angaben eine zerrissene Kindheit. Die sind aber nicht einfach zu verarbeiten, denn ihr Vater ist "als Jude zum Katholizismus und dann zum Kommunismus konvertiert". Ihre Eltern waren linientreu, der Vater gründete mit Erich Honecker die SED, ihre drei Brüder indes rebellierten gegen das DDR-Regime (einer von ihnen war der Schriftsteller, Dramatiker, Drehbuchautor, Regisseur und Lyriker Thomas Brasch, der wie sein Bruder Klaus von der Stasi als "Feinde der DDR" eingestuft wurden). Einfach war es wohl nicht für Marion, das jüngste Kind der Braschs. Mit Bedacht heißt ihr erster Roman "Ab jetzt ist Ruhe" – es ist ein autobiografischer Roman. Marion Brasch distanziert sich von ihrem Vater und geht ihren eigenen Weg. Vielleicht ist "Lieber woanders" ein Versuch, mit der Vergangenheit abzuschließen?
AVIVA-Tipp: Marion Brasch hat mit ihrem dritten Roman ein Buch über Zufall und Schicksal geschrieben, und dass der Mensch weniger Einfluss auf den eigenen Lebensweg hat, als vielfach angenommen. Aber, auch Motive wie Schuld und Trauer werden von ihr bearbeitet. Dass es funktioniert diese schicksalsträchtigen Themen sowohl mit Humor als auch Tiefsinn zu bearbeiten, hat die Autorin und radioeins-Moderatorin mit "Lieber woanders" unter Beweis gestellt. Dass trotz des kurzweiligen Schreibstils Raum für Nachdenklichkeit geschaffen wird, ebenfalls.
Zur Autorin: Marion Brasch wurde 1961 in Berlin geboren. Nach dem Abitur arbeitete die gelernte Schriftsetzerin in einer Druckerei, bei verschiedenen Verlagen und beim Komponistenverband der DDR. Von 1987 bis 1992 war sie beim Radiosender DT64 tätig, zunächst als Musikredakteurin, später auch als Moderatorin und Autorin. Nach kurzen Stationen bei Fritz und Radio Brandenburg ging sie 1997 zu radioeins. Zudem ist sie seit Anfang der 2010er Jahre schriftstellerisch tätig, veröffentlichte die Romane "Ab jetzt ist Ruhe" (2012) und "Wunderlich fährt nach Norden" (2014) und die Erzählungssammlung "Die irrtümlichen Abenteuer des Herrn Godot" (2016). Marion Braschs neuer Roman "Lieber woanders" ist im Februar 2019 im S. Fischer Verlag erschienen. (Quelle: radioeins)
Marion Brasch im Netz: www.marionbrasch.de und auf Facebook
Weitere Infos zur Familie Brasch erfahren Sie in dem gleichnamigen Dokumentarfilm von Annekatrin Hendel aus dem Jahr 2018 unter www.familie-brasch-film.de
Marion Brasch
Lieber woanders
S. Fischer Verlag, erschienen Februar 2019
Gebundenes Buch, 160 Seiten
ISBN 978-3103974133
Euro 20,00
Mehr zum Buch sowie Lesungstermine unter: www.fischerverlage.de
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