Karin Weimann - Child Survivors zu Gast am Gedenktag 27. Januar: Erinnern und VerANTWORTung in der Ruth-Cohn-Schule - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 01.08.2019


Karin Weimann - Child Survivors zu Gast am Gedenktag 27. Januar: Erinnern und VerANTWORTung in der Ruth-Cohn-Schule
Nea Weissberg

Mit ihren Publikationen zur Auseinandersetzung mit den Folgen des Mordens am Jüdischen Volk zeigt die Autorin, Soziologin und Lehrerin wegweisende gesellschaftspolitische Schritte, die konkrete Schuld, Mitschuld, ZuschauerInnenschaft, Dabeisein und das aktive Handeln von NS-Tätern und NS-Täterinnen klar zu benennen.




Eingefrorener Gedächtnisinhalt

Karin Weimann zeigt, wie einerseits Verantwortungsübernahme zu lernen ist und andererseits die Ablehnung von Verantwortung bei Kriegskindern und den Danach-Geborenen – Töchter, Söhnen, Enkel und Enkelinnen - unreflektiert emotional fortwirkt.
Karin Weimann erzählt im vorliegenden Band der Reihe "Die Unruhe der Zeitzeugen des Holocaust" einfühlsam und nachvollziehbar von ihren Erlebnissen und Erfahrungen mit Child Survivors der Shoa, die als Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in die Ruth-Cohn- Schule in Berlin alljährlich zum Gedenktag 27. Januar eingeladen werden.

Ihr jahrzehntelanges unermüdliches, engagiertes Bemühen ist es, dass Nachgeborene der NS-TäterInnenseite erfahren, welche anhaltenden Folgen die erlittenen physischen, psychischen, sozialen Traumata für die Verfolgten-Gruppen haben. Was es z.B. heißt, legalisierte langjährige Demütigungen, Ausgrenzungen, Überleben in Verstecken oder Deportationen in Konzentrations- oder Vernichtungslager erleiden zu müssen.
Die Autorin zeigt anhand ihrer jüdischen Protagonistin Sara Bialas, einem ´Child Survivor´, welche nachträglichen Auswirkungen der gewaltsame Lebensriss, der Verlust von Familie, Freunden und Freundinnen fühlbar sind.

Das Buch eröffnet sein Thema mit einer skizzenhaften Wiedergabe des Schicksals der in Polen geborenen Sara Bialas, erweitert sich zur Schilderung kollektiver Schicksale der Child Survivors, eingebettet in Ausführungen über die gesellschaftlich-politische Situation der Bundesrepublik der frühen und späteren Jahre, formuliert gesellschaftspolitische Forderungen an eine - den erlittenen psychischen, physischen und sozialen Lebensbeschädigungen der Child Survivors hinreichend gerechtwerdende - Kultur der Anerkennung. Das Buch endet mit einem "fiktiven Brief" an die Freundin Sara, in dem die Entstehung, Entwicklung und Vertiefung dieser Freundschaft erzählt und der der Autorin darüber zugewachsene geistige wie emotionale Reichtum eindrücklich formuliert werden.

Sara Bialas-Tenenberg, geboren als Stefania Sliwka, jüngste der drei Töchter von Krojna und Rafael Sliwka, wird 1927 im polnischen Czestochowa geboren. Nach dem Überfall der Wehrmacht auf Polen im Jahr 1939 werden sie und ihre Familie in ein von NS-Okkupanten errichtetes Ghetto eingepfercht. Aus Stefania wird nach dem Krieg "Sara": Sie, einzige Überlebende ihrer Familie, fühlt sich der mütterlichen Weisung verpflichtet, den zwangszugewiesenen Namen erinnernd weiterzutragen.

1941 bringt der Vater die Dreizehnjährige in einer gefahrvollen Flucht nach Schlesien zu ihrer Schwester, dort wird sie bei einer Razzia gefangen genommen und in das Zwangsarbeitslager Gabersdorf (damals Tschechei) deportiert. Dieses Lager wird nach einiger Zeit in ein Frauenkonzentrationslager umgewandelt. Hier muss sie Zwangsarbeit in einer Spinnerei leisten. Nicht allein ihre Arbeitskraft wird ausgebeutet, sie wird auch für medizinische Verbrechen missbraucht, eine Aufseherin schlägt ihr ein Auge aus. Mutter und Vater werden in Treblinka ermordet, eine der beiden Schwestern von einem Wehrmachtssoldaten erschossen, das Schicksal der anderen Schwester bleibt ungeachtet langjähriger Nachforschungen unbekannt. Im Mai 1945 erlebt Stefania/Sara den Sieg über Nazi-Deutschland, die Befreiung mit Hilfe russischer ´Rote Armee´-Streitkräfte.

Die traumatischen Erinnerungen an jene menschenfeindlichen, individuell und kollektiv erfahrenen Gewaltexzesse sind als eingefrorener Gedächtnisinhalt zu beschreiben. Blitzartig kann die Erinnerung emporschießen, ausgelöst durch eine triviale oder unbedachte Bemerkung Dritter. Nachts können sich die traumatischen Erfahrungen durch Albträume bemerkbar machen, die ungeschützte Wiederbelebung alter Schreckenserlebnisse verstärken den radikal erlebten Verlust geliebter Menschen, Verlassenheitsängste und Gefühle von Einsamkeit. Solche peinigenden Nächte mehren sich bei vielen Altgewordenen, ihre lebensstützenden Abwehrkäfte werden schwächer.

Karin Weimanns Buch ermutigt Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler, den Überlebenden der nationalsozialistischen Hetzjagd und ihren Erfahrungen nach der Befreiung ihr Ohr zu öffnen und ihnen Mitgefühl entgegenzubringen.
Die Bereitschaft zum Anhören und Aushalten, das betont die Autorin nachdrücklich, stärkt die Entwicklung empathischer Persönlichkeiten, ihre gesellschaftlich-politische Gegenwart aufmerksam, kritisch, verantwortungsbewußt wahrzunehmen und entsprechend zu handeln.
Weimann stellt als Pädagogin anhand der Schilderung der Struktur und des Ablaufs des Gedenktages 27. Januar an der Ruth-Cohn-Schule dar, auf welche Weise offizielle Gedenktage geplant und im Schulalltag erfolgreich verwirklicht werden.

"Chancen und Herausforderungen" der schulischen Erinnerungs-und Gedenkarbeit werden thematisiert.
Auch nach den eindrücklichen schulischen Begegnungen mit Sara Bialas am Gedenktag 27. Januar besuchen einige Lernende sie auch später noch. Mehrmals begleiten einige Studierende der Ruth-Cohn-Schule sie, gemeinsam mit Freundinnen, Freunden, Familienangehörige, nach Treblinka, dort wurden ihre Eltern ermordet. Die nachträglichen Gespräche spiegeln die emotionale Bedeutsamkeit dieser Fahrten an den Ort des Mordens.
Das Jahr hat viele Tage. Um über den Gedenktag hinaus Verbindungen zu pflegen, bedarf es nachfolgender Besuche, von beiden Seiten erwünscht, um der Gefahr der Instrumentalisierung der Erinnerungen der Überlebenden für die Gestaltung des Gedenktages entgegenzuwirken.

Bei jüdischen Familien wird zwischen der Second Generation und den Child Survivors unterschieden: Die Child Survivors waren vom Tage ihrer Geburt an durch die NS-Ideologie und das NS-Vernichtungsprogramm existentiell bedroht.
Sie lebten in unaufhörlicher Lebensgefahr, gefangen, erschossen und vergast zu werden. Während des II. Weltkrieges sind in Europa 1,5 Millionen jüdische Kinder ums Leben gekommen, mehr als eine Million dieser Kinder wurde vorsätzlich und systematisch vernichtet. "Mit dem Tod so vieler Kinder wurden auch zukünftige Generationen vernichtet und der natürliche Fortgang von Generation zu Generation auf gewaltsame Weise unterbrochen." (Gilbert, Martin: Endlösung. Die Vertreibung und Vernichtung der Juden. Ein Atlas)

AVIVA-Tipp: In ihrem Buch verknüpft die Autorin eine klar strukturierte, intellektuelle Herangehensweise, belegt durch sorgfältig recherchierte, kenntnisreiche und zitierte Fachliteratur, mit der Erzählung einer Freundschaft zwischen Sara, der Überlebenden, und der Autorin als einer Nachgeborenen der TäterInnen-Generation - in gegenseitigem Respekt, wechselseitiger Empathie und Zuneigung.
Das ist für Lernende und Lehrende beispielhaft und beachtenswert.

Karin Weimann
Child Survivors zu Gast am Gedenktag 27. Januar
Erinnern und VerANTWORTung in der Ruth-Cohn-Schule

Buchreihe: Die Unruhe der Zeitzeugen des Holocaust
(Herausgeber Dr. Philipp Sonntag)
Band 2
129 Seiten, broschiert
ISBN-Nr. 978-3-936103-61-8
2018 Beggerow Buchverlag
9,90 Euro
Mehr Informationen zum Buch und Bestellung unter: www.beggerow-verlag.de

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Barbara Bišický-Ehrlich – Sag´, dass es dir gut geht. Eine jüdische Familienchronik
Persönliches Erinnern, historische Fakten und gesellschaftspolitisch aufoktroyierte Erinnerungskultur – das sind zwei Facetten eines Andenkens. In der vorliegenden Publikation stehen familiäre Erinnerungen im Fokus. (2018)

Sabine Adler - Weiterleben ohne Wenn und Aber. Die Shoah-Ãœberlebende Giselle Cycowicz
Die Chefreporterin des Deutschlandfunks Sabine Adler porträtiert in ihrem Buch die 1927 in Chust geborene israelische Trauma-Therapeutin bei AMCHA, Dr. Giselle Cycowicz und erzählt die Biographie der Psychologin. Deren Lebensgeschichte wird umrahmt von Kurzporträts einiger ihrer fast gleichaltrigen Patienten und Patientinnen, die wie Cycowicz, den vom deutsch-nationalsozialistisch geprägten Rassenhass angefachten millionenfachen Mord am Jüdischen Volk überlebten. (2018)



Literatur

Beitrag vom 01.08.2019

Nea Weissberg