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Beitrag vom 15.09.2019
Elena Ferrante – Tage des Verlassenwerdens
Doris Hermanns
Im letzten der drei Romane, die Ferrante noch vor ihrer Neapolitanischen Saga geschrieben hat, und der jetzt neu aufgelegt wurde, wird eine Frau, die sich in einer glücklichen Ehe und Familie glaubte, von einem Moment auf den anderen von ihrem Mann verlassen und stürzt daraufhin komplett ab.
"Turin kam mir vor wie eine große Festung mit eisernen Mauern, Wänden von eisigem Grau, die auch die Frühlingssonne nicht wärmen konnte." 15 Jahre lang sind Olga und Mario verheiratet, sie haben zwei Kinder, alles scheint perfekt – bis Mario seiner Frau eröffnet, dass er sie verlassen wird. Es kommt für sie aus heiterem Himmel und sie bemüht sich, beherrscht zu bleiben, glaubt erst einmal, es sei nur eine Phase. Sie kennt aus ihrer Kindheit in Neapel die poverella (die Ärmste), die verrückt wurde, nachdem ihr Mann sie verlassen hat – so will sie ganz sicher nicht werden. Als Schülerin bekam sie von ihrer Französischlehrerin ein Buch, in dem Frauen von ihren Männern verlassen werden und "gebrochene Frauen" werden, eine Formulierung, die sicher nicht zufällig an den Novellenband von Simone de Beauvoir mit diesem Titel erinnert. So wollte Olga nicht werden, die Erinnerungen daran sitzen tief und tauchen immer wieder auf. "Stark wirken, es sein. Ich musste damit fertig werden. Nur wenn ich das durchstand, gab es eine Rettung für mich."
Erst nachdem ihr Mann ihr verkündet, dass er sich in eine andere verliebt hat, dringt es wirklich zu ihr durch, dass es keine Phase ist, sondern dass er sie verlassen hat. Und mit dieser Erkenntnis verliert sie die Kontrolle über ihr Leben: Sie fängt an, sich anderen gegenüber aggressiv zu verhalten, hat das Bedürfnis sich zu streiten, verliert ihre FreundInnen, vernachlässigt sich und ihre Kinder, streitet sich ständig mit ihnen. Schonungslos wie bei Ferrante üblich beschreibt sie, wie Olga immer weiter abstürzt, nichts wird beschönigt, weder ihre Unfähigkeiten noch ihr Unwille, sich um die Kinder und den Hund zu kümmern, noch die Aggressivität und ihr Hass ihrem Mann gegenüber. Immer weiter scheint sie in den Wahnsinn abzurutschen, alles dreht sich nur noch um ihn: "All meine Gedanken richteten sich nur auf ihn, warum er mich nicht mehr liebte, dass er mir die Liebe erwidern musste, er konnte mich doch nicht einfach so verlassen."
Hart zu anderen, aber auch zu sich selber muss sie erkennen, was sie alles aufgegeben hat, u. a. ihr Schreiben: "Und jetzt, mit achtunddreißig, war nichts von mir übrig und ich nicht einmal fähig, so zu handeln, wie ich es für richtig hielt. Ohne Arbeit, ohne Mann, verkrampft und abgestumpft."
Olga unterzieht sich einer ständigen Selbstbeobachtung, versucht, das Geschehene zu analysieren, was ist wo schief gegangen? Nachts schreibt sie, oft weiß sie anschließend nicht einmal mehr, was sie aufgeschrieben hat, wo sie Zitate abgeschrieben hat. Immer wieder fragt sie sich, was los ist mit ihr.
Mit großer Härte und Klarheit beschreibt Ferrante diesen Absturz, der sich nicht aufhalten lässt. Eine Situation, die viele Frauen nicht unbekannt sein dürfte, auch durchaus häufiger bereits in der Literatur beschrieben, aber eben nicht so, nicht mit dieser Kraft und diesem Willen, diese Situation auch wieder hinter sich lassen zu wollen. "Ich beschloss, dass ich genug gelitten hatte. Auf die Lippen ihres nächtlichen Glücks musste ich die meiner Vergeltung heften. Ich gehörte nicht zu den Frauen, die verlassen wurden und an der Einsamkeit zerbrachen, die sich in den Wahnsinn, in den Tod treiben ließen." Sie braucht lange, aber irgendwann verfliegt der Schmerz, sie war nicht gebrochen, war aber dennoch untröstlich, merkte aber "Ich war unversehrt und ich würde es bleiben."
Auf Dauer schafft sie es, Abstand zu ihrem Mann zu gewinnen und meint zu verstehen: "Wir wissen nichts über andere Menschen, nicht einmal über die, mit denen wir alles teilen." Sie beginnt wieder zu schreiben, findet eine neue Arbeit, das Verhältnis mit ihren Kindern wird wieder besser und auch die poverella wird wieder zu einer Erinnerung, zu einem alten Foto, das blutleer ist, versteinerte Vergangenheit. Und wirft ihrem Mann letztendlich vor: "Heute weiß ich, was ein Abgrund bedeutet und was passiert, wenn du es schaffst, da wieder rauszukommen. Du nicht, du weißt es nicht. Du hast höchstens mal einen Blick hinunter riskiert, dich erschrocken."
Ihr Fazit zu Ende des Romans: "Leben war genau das, dachte ich, ein glücklicher Schreck, ein stechender Schmerz, ein intensives Lustgefühl, pulsierende Adern unter der Haut, eine andere Wahrheit gibt es nicht zu erzählen."
Zur Vorfreude, für alle, die vom Ferrante-Fieber ergriffen sind: Ihr italienischer Verlag hat diese Woche angekündigt, dass es Anfang November 2019 einen neuen Roman von ihr geben wird. Wir dürfen gespannt sein!
AVIVA-Tipp: Tage des Verlassenwerdens ist ein großartiger, beeindruckender Roman, der mit schonungsloser Offenheit aufzeigt, wie tief Frauen nach einem Ende einer Beziehung abstürzen können, sprachlich beeindruckend aber auch aufzeigt, dass sie dabei keine "gebrochene Frau" bleiben müssen, sondern ein eigenes Leben ohne eben jenen Mann führen können.
Zur Autorin: Elena Ferrante hat sich mit dem Erscheinen ihres Debütromans im Jahr 1992 für die Anonymität entschieden. Ihre vierbändige Neapolitanische Saga –Meine geniale Freundin, Die Geschichte eines neuen Namens, Die Geschichte der getrennten Wege und Die Geschichte des verlorenen Kindes - ist ein weltweiter Bestseller und hat sich millionenfach verkauft. Ihr Kinderbuch Der Strand bei Nacht ist im Oktober 2018 erschienen. Inzwischen sind auch ihre vorherigen drei Romane Lästige Liebe , Frau im Dunkeln und Tage des Verlassenwerdens neu aufgelegt. Im Frühjahr 2019 erschien Frantumaglia. Mein geschriebenes Leben. Ein neuer Roman von Ferrante wurde von ihrem italienischen Verlag für November 2019 angekündigt.
Mehr Infos zu Elena Ferrante unter: www.elenaferrante.de
Zur Ãœbersetzerin:
Anja Nattefort, übersetzt aus dem Italienischen und Französischen, darunter Bücher von Alessandro Baricco, Bernard-Henry Lévy und Faïza Guène.
Elena Ferrante
Tage des Verlassenwerdens
Originaltitel: I giorni dell´abbandono
Aus dem Italienischen von Anja Nattefort
Suhrkamp Verlag, erschienen 09.09.2019
Gebunden mit Umschlag. 252 Seiten
ISBN 978-3-518-42885-6
Euro 22,00
Mehr zum Buch und Lesungstermine unter: www.suhrkamp.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Elena Ferrante – Frau im Dunkeln
Ein Urlaub wird für eine Anglistik-Professorin in Ferrantes neuem Roman zu einer Reise in die Vergangenheit, in der sie sich mit sowohl mit ihrer Rolle als Tochter als auch der als Mutter auseinandersetzt. Und: Der Strand bei Nacht (2019)
Elena Ferrante – Lästige Liebe
Nach dem vierten und damit letzten Band der "Neapolitanischen Saga" liegt nun der Debütroman der Autorin "Lästige Liebe", in dem sich die Haltung einer Tochter zu ihrer Mutter nach deren Tod grundlegend ändert, in neuer Übersetzung vor. (2018)
Elena Ferrante - Die Geschichte des verlorenen Kindes
Der vierte und letzte Band der Neapolitanischen Saga ("Meine geniale Freundin", "Die Geschichte der getrennten Wege" und "Die Geschichte eines neuen Namens") ist das große Finale der Tetralogie, in dem aber nicht alle Fragen geklärt werden. (2018)
Elena Ferrante - Die Geschichte der getrennten Wege
Das #Ferrantefever geht weiter: Im dritten Band der Neapolitanischen Saga ("Meine geniale Freundin" und "Die Geschichte eines neuen Namens") erzählt die Autorin, wie sich die Freundschaft der beiden erwachsenen Frauen trotz Entfernungen weiterentwickelt. (2017)
Elena Ferrante – Die Geschichte eines neuen Namens
Es geht weiter mit der Neapolitanischen Saga von Elena Ferrante ("Meine geniale Freundin"): Endlich erfahren wir, wie die Freundschaft der beiden Mädchen während ihrer Jugendzeit weiterentwickelt. (2017)
Elena Ferrante - Meine geniale Freundin
Am 27. August war es endlich so weit: Der erste Band der Neapolitanischen Saga von Elena Ferrante erschien auf Deutsch – lange nachdem alle vier Bände in anderen Sprachen bereits weltweit bejubelt wurden. (2016)