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Beitrag vom 17.09.2019
Madeline Miller – Ich bin Circe
Saskia Balser
Nach ihrem mit dem "Orange Price for Fiction" ausgezeichneten Debütroman "Das Lied des Achill" hat die Schriftstellerin Madeline Miller nun "Ich bin Circe" veröffentlicht, der ebenso wie sein Vorgänger auf Sagen der griechischen Mythologie basiert, welche Miller modern und feministisch neuinterpretiert hat. Aus der Sicht der Göttin Circe erzählt sie die Geschichte einer Außenseiterin, die ihren eigenen Weg zu finden versucht und dabei unerwartete Kräfte in sich entdeckt.
Wer das Stichwort "Griechische Mythologie" hört, denkt vermutlich zuerst an den Olymp, an Zeus, Hades, Medea, Odysseus oder Athene. Die Figur der Circe ist für Viele vielleicht nicht bekannt, oder nur als Nebencharakter aus Homers "Odyssee". Madeline Miller rückt die Tochter des Sonnengotts Helios und der Nymphe Perse in den Mittelpunkt ihres Romans und lässt sie ihre eigene Geschichte erzählen: Die von weiblicher Selbstermächtigung, Wut, Unabhängigkeit und Leidenschaft.
Circe fühlt sich, anders als ihre Geschwister Pasiphäe und Aietes, von Kindheit an in der Gesellschaft der Göttinnen und Götter unwohl. Selbst ihre Familie mied sie, weil ihre Stimme klingt wie die einer Sterblichen und auch ihr Charakter eher zu den Menschen, als in ihre göttliche Welt, passt: "Sie verpasste mir den Namen Circe, Falke, wegen meiner gelben Augen und dem seltsamen, jämmerlich dünnen Klang meiner Stimme, wenn ich weinte."
Sie war einsam und hielt sich stets abseits, ging ihren eigenen Interessen nach und entdeckte dabei schließlich, dass sie Kräfte besaß, die als "Pharmakeia", Zauberkunst, bezeichnet werden. Als Strafe dafür, dass Circe aus Eifersucht eine Nymphe namens Skylla in ein Meeresungeheuer verwandelt, wird sie auf die Insel Aiaia verbannt, wo sie von nun an lebt. Was als Fluch gedacht war, entpuppt sich für Circe als Segen. Auf der Insel entfaltet sie ihre Hexenkraft, studiert Pflanzen, zähmt wilde Tiere und empfindet endlich die Freiheit, nach der sie sich immer gesehnt hat.
Zudem empfängt sie auf Aiaia hohen Besuch. Zu ihr kommen namenhafte Charaktere wie Hermes, Iason, Medea, Athene und der wohl bekannteste unter ihnen – Odysseus.
Durch die vielen Besucher*innen werden unterschiedliche Geschichten miteinander verknüpft, im Fokus steht dabei stets die mächtige Circe. Sie wird als komplexe Figur mit Tiefe für Leser*innen interessant und greifbar. Auch gewaltsame Handlungen, die sie als Hexe vollzieht, werden durch die Ich-Perspektive emotional beschrieben und dadurch miterlebt und nachvollziehbar.
Als Circe noch nicht lange alleine auf Aiaia lebt, lässt sie aus Leichtsinn eine Gruppe von Männern an Land kommen, die angeblich Schiffsbruch erlitten hatten. Sie bewirtet sie und schöpft keinen Verdacht, als diese sie energisch nach dem "Herrn des Hauses" fragen. Nachdem sie zugibt, alleine zu leben, wird sie von einem der Männer brutal vergewaltigt.
Gezeichnet von diesem verstörenden Ereignis und erbittert in dem Glauben an das Gute in den Seemännern, verwandelt Circe alle zukünftigen Besucher dieser Art in Schweine. Nur selten lässt sie Gnade walten:
"Wenige von ihnen, so wenige, dass ich sie an einer Hand abzählen konnte, ließ ich ziehe. Für sie war ich nicht Teil des Abendessens. Sie waren gottesfürchtige Männer und tatsächlich vom Kurs abgekommen. Diese Männer bewirtete ich, und wenn ein ansehnlicher Kerl unter ihnen war, nahm ich ihn gelegentlich auch mit in mein Bett. Nicht aus Begierde, nicht einmal ansatzweise. Es war eher Zorn, der mich dazu antrieb, ein Messer, das ich gegen mich selbst richtete. Ich tat es, um zu beweisen, dass meine Haut noch immer mir gehörte."
Circes Perspektive ist nicht nur eine weibliche, sondern eine durch und durch Feministische. Das wird beispielsweise auch bei ihrer Beschreibung der Penelope, der Frau von Odysseus, deutlich:
"Ich musterte sie, wie sie da auf meiner Türschwelle stand, so strahlend wie der Mond am Herbsthimmel. Sie hielt meinem Blick stand, grau und fest. Viele Redensarten bezeichnen Frauen als zarte Geschöpfe, als Blumen, Eier, alles, was womöglich schon bei der kleinsten Unachtsamkeit zerbricht. Wenn ich daran jemals geglaubt hatte, war es damit jetzt vorbei."
Durch diesen Blickwinkel und die bildhafte, moderne Schreibweise Millers ist das Buch absolut aktuell und kann auch Leser*innen begeistern, die sich noch nie für die griechische Mythologie interessiert haben und deren Figuren und Geschichten nicht kennen – gerade dann sind die Wendungen, die die Erzählung nimmt, unvorhersehbar und spannend.
AVIVA-Tipp: Ein großes Lesevergnügen! Leser*innen tauchen auf den über 500 Seiten voll und ganz in die griechische göttliche Welt ein und erleben Liebe, Eifersucht, Abenteuer und Rache. "Ich bin Circe" gibt den uralten Sagen einen modernen, feministischen Touch und erfüllt ausgewählte Protagonist*innen, sowie Nebencharaktere aus Homers "Odyssee" mit neuem Leben.
Zur Autorin: Madeline Miller, 1978 in Boston geboren, wuchs in New York und Philadelphia auf, studierte Altphilologie und unterrichtete in Cambridge Latein und Griechisch. Miller schreibt Kurzgeschichten und Essays. Für ihren in 25 Sprachen übersetzten Debütroman "Das Lied des Achill" ("The Song of Achilles") wurde sie 2012 mit dem Orange Prize for Fiction ausgezeichnet. In "Ich bin Circe" – ihr zweiter Roman und ebenso wie "Das Lied des Achill" ein internationaler Bestseller – erzählt sie Circes Geschichte aus der Odyssee noch einmal neu – als die einer weiblichen Selbstermächtigung. Madeline Miller lebt in der Nähe von Philadelphia, Pennsylvania. (Quelle: Verlagsinformation)
Mehr zur Autorin und ihr "Myth Blog" mit allen Neuigkeiten zum Buch unter: www.madelinemiller.com
Madeline Miller
Ich bin Circe
Originaltitel: Circe
Ãœbersetzt von Frauke Brodde
Eisele Verlag, erschienen am 30. August 2019
Hardcover mit Schutzumschlag, 528 Seiten
ISBN-13 9783961610686
24 Euro
Mehr zum Buch unter: www.ullstein-buchverlage.de
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