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Beitrag vom 21.10.2019
Unda Hörner - Am Horizont der Meere. Gala DalÃ
Sharon Adler
Unda Hörner ("1919. Das Buch der Frauen", "Berliner Luft – Pariser Leben") zeichnet ein lebendiges Portrait einer außergewöhnlichen und charismatischen Frau, die aus dem ihr bestimmten bürgerlichen Lebensweg ausbricht und alle Schranken überwindet, um ihren Traum zu leben: sichtbar zu sein, frei und unabhängig.
Moskau 1912: Helena (Elena) Dmitriewna Diakonowa, genannt Gala, feiert ihren 18. Geburtstag, als ihr der Arzt wegen ihrer angegriffenen Lungen eine Kur verordnet, weit weg von Zuhause, in der Schweiz, genauer: im Sanatorium Clavadel im Luftkurort Davos.
In ihrem Gepäck: Neben viel exquisiter Garderobe Dostojewskis Schuld und Sühne", Tolstois Anna Karenina (ihr Lieblingsbuch) und seine Kreuzersonate, außerdem Lyrik von Puschkin und Blok.
Während der stundenlangen Liegekuren auf dem Balkon mit Blick auf die atemberaubende Kulisse der Schweizer Berge liest die junge Frau nicht nur, sie langweilt sich auch, sehnt sich nach einer oder einem ebenbürtigen Gesprächspartner*in.
Schriftstellerin und Biographin Unda Hörner berichtet kenntnisreich und emphatisch von der Gefühlswelt der jungen Frau und ihren prägenden Begegnungen, darunter mit der angehenden Schriftstellerin Lidija Pisarschewskaja, die während des Kuraufenthalts an einem Roman arbeitet Das Sanatorium des Todes und der Liebe (Sanatorium smerti i Ijubwi). Im Gespräch mit der anderen Russin lässt Gala eine Äußerung fallen, die als repräsentativ für ihre nahe Zukunft gelesen werden kann. "Schreiben würde ich auch gern, aber ich fürchte, mir fehlt das Talent"
Kurz nach dieser Begegnung lernt Gala den angehenden Dichter Paul Éluard (Eugène-Émile-Paul Grindel) kennen, der ihr nicht nur deshalb auffällt, weil er mit einem dicken Buch die Sanatoriumsbibliothek verlässt. Seine Lektüre: Der Glöckner von Notre Dame von Victor Hugo. Über die Liebesgeschichte zwischen Esmeralda und Quasimodo und die Zeilen "Sich lieben heißt zwei sein und doch eines sein. (…) Die Liebe ist der Himmel" kommen sich die jungen Leute näher, lesen gemeinsam die französischen und russischen Literaten Baudelaire, Rimbaud, Verlain, Puschkin und Blok. Schon bald beginnen sie, gemeinsam Gedichte zu schreiben, finden schnell einen passenden Titel: "Dialogues des Inutiles", den "Dialog der Taugenichtse".
Pierrot und Pierette
Diese Bühnenfiguren sind es, die das verliebte Paar beim Maskenball in Davos verkörpert, und das mit der Plattenkamera aufgenommene Foto soll Gala und Paul über die kommenden Jahre ihrer wechselvollen Beziehung begleiten.
Nach ganzen 15 Monaten kann der Aufenthalt im Sanatorium nicht weiter verlängert werden, Gala und Paul werden als kuriert entlassen und kehren in ihre jeweiligen Heimatstädte zurück, Gala nach Moskau, Paul nach Paris.
Das Paar wird während der Kriegswirren getrennt, doch schon bald folgt Gala dem Geliebten nach Paris, 1917 heiraten sie und bekommen ein Jahr später eine Tochter, Cécile.
Doch Gala will mehr als nur das monotone Leben der Ehefrau und Mutter führen, es zieht sie in die Boheme-Kreise der Avantgarde, in denen ihr Mann bisher ohne sie verkehrte. Gala wird zur Muse der Surrealisten, wagt es als Einzige, André Bretons Autoritätsgehabe und konservatives Frauenbild zu kritisieren. Mit Paul und dem noch unbekannten Maler Max Ernst lebt sie eine jahrelang andauernde Ménage à trois.
1929 tritt der junge Salvador DalÃ, der shooting Star des Surrealismus, in ihr Leben. Gala beschließt, mit Dalà zu leben, sie will ihren neuen Geliebten als Muse, Model und Managerin unterstützen. Vor allem aber will sie eines. Frei und sichtbar sein.
Unda Hörner nimmt die Leserin auf diesem Weg, auf der Entwicklungsreise von Gala mit. Die Autorin gilt als Expertin auf dem Gebiet besonders der Frauenbiographien der 1920/30er Jahre. Dass die Frauen dieser Zeit nicht nur die Anhängsel ihrer weit berühmteren Ehemänner oder Geliebten waren, legte sie bereits in ihrem Buch Die realen Frauen der Surrealisten. Simone Breton, Gala Éluard, Elsa Triolet unmissverständlich dar.
Auch in der Biographie von Gala Diakonowa, verheiratete Gala Éluard, verheiratete Gala Dalà macht sie deutlich, dass diese nicht, wie allgemein angenommen und überliefert allein als Muse fungiert hat. Sie beschreibt vielmehr, dass und wie Gala als Kunstvermittlerin tätig ist und die Werke von Salvador Dalà und weiteren Künstlern an Galeristen verkauft, Preisverhandlungen führt und Ausstellungen organisiert. In ihrem Buch erzählt Unda Hörner auch von Galas Begegnung mit Coco Chanel. Sie ist es, die Gala den Rat gibt, DalÃs Arbeiten müssten "ein Alleinstellungsmerkmal aufweisen, damit sich die Sammler um ihn reißen." Die Modemacherin vergleicht das Schaffen dieser dafür notwendigen Einzigartigkeit mit ihren Kreationen, betont die Wichtigkeit damit, sie sollten unverwechselbar wie ein Kleid von Coco Chanel.
Die Autorin zeichnet ein genaues Abbild der Atmosphäre inmitten der schillernden Künstler*innenwelt der 1920er und 1930er Jahre, thematisiert aber auch den aufkommenden Nationalsozialismus und die Sympathien Salvador DalÃs gegenüber Hitler. Die Leserin lernt auch die Haltung Galas kennen, die schon bei einem ihrer Berlin-Aufenthalte geschockt war von den Aufmärschen der Nationalsozialisten.
Obwohl das Leben Galas im Fokus dieses Buches steht, benennt die Autorin auch zahlreiche weitere Protagonistinnen und Protagonisten der Zeit und fügt ihre wechselseitigen und mitunter verwickelten Verbindungen in einem kunstvoll komponierten Kaleidoskop zusammen. Indem sie die Facetten in den Liebesbeziehungen ihrer Protagonist*innen abbildet, macht sie auch deren widerstreitende, überbordenden Gefühle sichtbar.
Unda Hörner dokumentiert die Stationen im Leben von Gala DalÃ, vor allem aber ihr Charisma und ihren starken Willen. Indem die Biographin Gala selbst zu Wort kommen lässt, werden deren Sehnsüchte und Zweifel deutlich. Ihre scharfsichtigen Beobachtungen zeigen vor allem eins, ihren freien und unabhängigen Geist, der niemals aufgab, danach zu streben, was ihr höchstes Ziel war: Sichtbarkeit und Freiheit.
"Geld und Luxus konnte man freilich nie genug haben, aber ohne die Kunst, blieb da nicht aller Reichtum eine kalte Pracht"?
AVIVA-Tipp: Es war ein atemloses, ein berauschtes Leben, das Gala Dalà führte. Eines, das nicht den für sie bestimmten Bahnen folgte. Unda Hörner gelingt es, diese Atemlosigkeit plastisch abzubilden. Die romanhafte angelegte Biographie "Am Horizont der Meere. Gala DalÃ" ist ein ganz großes Lesevergnügen.
Zur Autorin: Unda Hörner geboren 1961, promovierte über Elsa Triolet, ist Germanistin und Romanistin und eine Spezialistin für die Geschichte der 1920/30er Jahre. Neben mehreren biographischen Werken, u.a. "Die realen Frauen der Surrealisten. Simone Breton, Gala Éluard, Elsa Triolet" (1996), "Madame Man Ray. Fotografinnen der Avantgarde in Paris"(2002) und "Scharfsichtige Frauen. Fotografinnen der 20er und 30er Jahre in Paris" (2010) veröffentlichte sie im Herbst 2000 ihren ersten Roman "Unter Nachbarn" sowie 2010 "Orte jüdischen Lebens in Berlin. Literarische Spaziergänge durch Mitte". 2012 erschien "Berliner Luft – Pariser Leben. Geschichten und Geschichte".
Ebenfalls von Unda Hörner bei ebersbach & simon erschienen sind die Titel "Ohne Frauen geht es nicht. Kurt Tucholsky und die Liebe", "Kafka und Felice", "1919. Das Buch der Frauen", "Hoch oben in der guten Luft" sowie "Auf nach Hiddensee!".
Für ihre Kurzgeschichte "Hangar für Hellermann" erhielt sie 2001 den Bettina-von-Arnim-Preis. Unda Hörner lebt und arbeitet als freie Autorin, Herausgeberin, Journalistin und Übersetzerin in Berlin.
Unda Hörner
Am Horizont der Meere. Gala DalÃ
Artikelnummer: 978-3-86915-189-2
Preis: 22,00 € [D]
304 Seiten, Einband: Gebunden. Ausstattung: Schutzumschlag, Fadenheftung
ebersbach & simon, erschienen 21. August 2019
Format: 12,5 x 20,5 cm
Mehr Informationen zum Buch und Bestellung sowie Lesungstermine unter: www.ebersbach-simon.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Unda Hörner - 1919. Das Buch der Frauen
1919 durften die Frauen in Deutschland zum ersten Mal wählen – und auch sonst war es ein Jahr des Aufbruchs, in dem alles wieder möglich schien. Unda Hörner ("Ohne Frauen geht es nicht. Kurt Tucholsky und die Liebe", "Berliner Luft – Pariser Leben") zieht ihre Leserinnen und Leser mitten hinein in dieses besondere erste Nachkriegsjahr und nimmt sie mit in das Leben außergewöhnlicher Frauen in Berlin, Weimar, Wien und Paris. (2018)
Unda Hörner - Kafka und Felice
Phantasievoll und kenntnis- wie detailreich hat Unda Hörner ihren Roman anhand des Briefwechsels zwischen Franz Kafka und Felice Bauer gestaltet, der die Leserin vom ersten Satz an in die historische Zeit des Beginns des zwanzigsten Jahrhunderts katapultiert. (2017)
Unda Hörner - Ohne Frauen geht es nicht. Kurt Tucholsky und die Liebe
"Es gibt keinen Erfolg ohne Frauen" schrieb Kurt Tucholsky in seinen "Schnipseln". Ob er damit auch seinen eigenen Erfolg als Journalist, Dichter und Schriftsteller meinte? Unda Hörner ("Berliner Luft – Pariser Leben") berichtet von den Frauen in seinem Leben denen er Lieder und Gedichte schrieb, die ihn zu Romanfiguren inspirierten, die er liebte und bewunderte. Zu ihnen gehörten Claire Waldoff, Trude Hesterberg, Irmgard Keun, Gussy Holl, Lisa Matthias und viele andere. (2017)
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Wer Paris mag, lernt Berlin zu lieben, wem Berlin vertraut ist, die kann es in dieser Lektüre in Paris wiederfinden. Die Autorin widmet sich nach Werken über Avantgarde und Bohème nun diesen zwei besonderen Metropolen. (2012)
Grenzgängerinnen der Moderne
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Dat söte Länneken und die Bohème
"Unser Haus ist umgeben von einem hellgrünen Grasteppich. Himmelblaue Decken sind aus Stralsund für die Gastbetten gekommen. Im Keller ist Pilsner und Korn aufgelagert, unsere Gäste können kommen." Unda Hörner geht in "Auf nach Hiddensee!" den Spuren der Bohème auf Hiddensee nach. (2003)
Madame Man Ray von Unda Hörner
Das faszinierende Leben und Werk von zehn Fotografinnen bestimmten die Kunstbewegungen der Avantgarde in Paris der 20er und 30er Jahre mit. (2002)