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Beitrag vom 23.12.2019
Posy Simmonds – Cassandra Darke
Bärbel Gerdes
In ihrem neuen Comic über eine Londoner Kunsthändlerin vereint die britische Cartoonistin, Schriftstellerin und Illustratorin Posy Simmonds Dickens´sche Weihnachtsgeschichte, Krimi und kleine Nadelstiche gegen den Kunstbetrieb zu einem anregenden Augenschmaus. Die Protagonistin trägt ihr Schicksal schon im Namen.
Cassandra Darke ist tief gefallen. Angewidert von Spekulanten, die Kunst nur als Geldanlage sehen, angewidert von ihrer Vulgarität und Ignoranz, angewidert wohl von der ganzen Menschheit, prellt die Londoner Kunsthändlerin und Galeristin ihre Kunden um £ 400.000, indem sie unautorisierte Abgüsse von Skulpturen eines verstorbenen Künstlers herstellen lässt und diese als offizielle für viel Geld verkauft. Als sie schließlich angeklagt wird, wird sie zu zwei Jahren Haft auf Bewährung und 200 Stunden Sozialarbeit verurteilt – und das, obwohl sie selbst ihren Fall für eine Lappalie hält. Ihr Renommee ist dahin, sie muss sich von ihrem Haus in Frankreich trennen und von ihrem Personal. Cassandra Darke ist pleite.
Da scheint es fast ein Glück zu sein, als Nicki, die Tochter ihres verstorbenen Ex-Mannes, die griesgrämige 71-Jährige um Geld für ein Kunstprojekt bittet. Cassandra ist zu einem Deal bereit: sie leiht ihr ein kleines Darlehen und lässt Nicki in ihrer Souterrain-Wohnung einziehen, doch im Gegenzug muss die junge erwerbslose Künstlerin für Cassandra arbeiten: sie führt den fetten Mops aus und übernimmt Zuarbeiten für Ms Darkes geplantes Buch. Verschwiegen bleibt, dass die Kunsthändlerin eine Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit erwartet.
Diese Konstellation wirbelt alles durcheinander. Nicht nur wird Cassandra Darke in einen Mordfall verwickelt, sie wird auch, ähnlich wie Mr Scrooge in Charles Dickens Christmas Carol, mit ihrer eigenen Verbitterung, Hartherzigkeit und mit schmerzlichen und verdrängten Schwachstellen konfrontiert.
Posy Simmonds hat sich bereits in ihren Büchern Gemma Bovery und Tamara Drewe mit spitzer Feder mit der Kulturwelt auseinandergesetzt. Scheinbar lehnen sich ihre Werke an große Romane an, besitzen jedoch eine sehr individuelle Eigenartigkeit.
Simmonds entlarvt mit Mitteln der Satire und starker Ironie die britische Mittelklasse. Wenn wir mit der Zeichnerin auf den Goldhelm von Kimberley Chaffham sehen, haben wir sofort Vernissagen mit Menschen in teuren Kleidern vor Augen, die elaborierte Geistlosigkeiten von sich geben. Weihnachten verkommt zu einem einzigen Konsumrausch, wattiert in Jingle Bells und geschmückten Fenstern.
Posy Simmonds, die bereits 1972 für den Guardian zu arbeiten begann, wo auch der vorliegende Band zunächst als Comic-Strip erschien, hat ihre Graphic Novels zu einem sehr individuellen Genre gemacht. Weite Textpassagen, die die Bilder einrahmen, wechseln sich ab mit textlosen Seiten, die die Erzählung weiterführen oder mit Seiten, auf denen der Text einzig aus spärlichen Sprechblasen bestehen. Dies regt zu einer noch eingehenderen Auseinandersetzung mit den Bildern an. Allein die unterschiedlichen Gesichtsausdrücke der Cassandra Darke – mal mürrisch-misstrauisch, abwertend-snobistisch, kompetent-geschäftlich, um plötzlich offen-verletzlich, auch traurig zu sein, als habe die Zeichnerin sie in einem unbedachten Augenblick überrascht – machen das Buch zu einem grandiosen Seh-Erlebnis.
Es ist gerade diese Vielschichtigkeit, die dem Buch seine Tiefe gibt. London ist in winterliches und frostiges Licht getaucht. Die Diskrepanz zwischen den unvorstellbar reichen Stadtteilen mit den leerstehenden Villen und denjenigen, in denen Armut und große Wohnungsnot stetig zunehmen, illustriert Simmonds deutlich. Und auch die Protagonistin ist vielschichtig: zwar ist Cassandra Darke eine Betrügerin, eine griesgrämige und unfreundliche Alte, doch sie ist auch eine Frau, die sich die Butter nicht vom Brot nehmen lässt, die es in ihrem Job zu etwas gebracht hat und die sich durchsetzt.
AVIVA-Tipp: Es ist eine Freude, sich durch die witzige, spannende und geistreiche Geschichte der Cassandra Darke durchzulesen und zu -sehen. Ein Buch, das sicherlich begeisterte Anhängerinnen finden wird.
Zu Posy Simmonds: Die hochdekorierte Illustratorin, Cartoonistin und Schriftstellerin wurde 1945 in Berkshire als Rosemary Elizabeth Simmonds geboren. Schon als Kind begann sie zu zeichnen. Sie studierte Kunst in Paris und Grafikdesign an der Central School of Art in London. 1969 bekam sie ihren ersten bezahlten Job als Illustratorin bei The Sun. 1972 begann sie beim Guardian, indem sie Artikel anderer AutorInnen illustrierte. 1977 kam mit wöchentlichen Comic-Strips auf der Frauenseite ihr Durchbruch. Ab 1987 arbeitete Simmonds vermehrt als Autorin von Kinderbüchern. In den späten 90gern schuf sie für den Guardian die Comic-Serie Gemma Bovery, die 1999 als Buch erschien und 2014 verfilmt wurde. Auch der folgende Serie Tamara Drewe erschien als Buch und wurde 2010 durch Stephen Frears unter dem Titel Immer Drama um Tamara verfilmt.
Posy Simmonds erhielt für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen. Sie wurde zum Cartoonist of the Year des British Press Awards, erhielt 2009 den Prix de la critique der Association des Critiques et des journalistes de Bande Dessinée und wurde 2002 zum Member of the Order of the British Empire ernannt.
Zum Übersetzer: Sven Scheer: Studium der Neueren deutschen Literatur, Geschichte und Linguistik an der Humboldt-Universität, Berlin. Zahlreiche Weiterbildungen in Übersetzen, Schreiben und Lektorieren in Seminaren der Bundesakademie für kulturelle Bildung, Wolfenbüttel, und der text-manufaktur, Leipzig. Übersetzungen u.a. Von Wetken über Andy Warhole und Leigh Bowery.
Posy Simmonds
Cassandra Darke
Originaltitel: Cassandra Darke
Aus dem Englischen von Sven Scheer
Handlettering: Michael Hau
Reprodukt Verlag, 2. Auflage erschienen im Dezember 2019
96 S., farbig, Hardcover
ISBN 978-3-95640-196-1
24,00 €
Mehr zum Buch: www.reprodukt.com