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Beitrag vom 13.01.2020
Lauren Groff - Florida
Bärbel Gerdes
Schlangen, Alligatoren, Stürme und glühende Hitze – in ihren Florida-Erzählungen setzt Lauren Groff ihre ProtagonistInnen den Naturgewalten aus, und auch innerlich tobt ein Sturm widersprüchlichster Gefühle und Erwartungen.
Im August 2019 zog Hurrikan Dorian Richtung Florida. Ein Monstersturm wurde erwartet, der in letzter Minute abdrehte und den Bundesstaat verschonte. Im Schnitt aber ziehen 15 bis 20 schwere Stürme jährlich über Florida hinweg. Insgesamt herrscht ein feuchtes-subtropisches Klima. Heftige Gewitter begleiten die Regenzeit.
Auch in den Protagonistinnen dieser Erzählungen toben Gewitter und Stürme.
Irgendwie ist aus mir eine Frau geworden, die herumschreit. Schon in der ersten dieser mitreißenden Geschichten versucht die Ich-Erzählerin in Balance zu bleiben. Damit ihre Kinder nicht mit starren und wachsamen Mienen durchs Haus schleichen, joggt sie jeden Abend in ihrem Viertel, auch wenn es kein ganz sicheres Pflaster ist.
Doch was ist schon sicher in diesen Welten, die uns die US-amerikanische Schriftstellerin Lauren Groff hier präsentiert? Da werden zwei Mädchen, vier und sieben Jahre alt, alleine auf einer Insel zurückgelassen, keine Erwachsenen sind mehr da, nur ein Hund, der hin- und hergerissen ist zwischen seinem Hass auf Kinder und seinem Hass auf den tosenden Sturm draußen. Eine Akademikerin entscheidet sich fürs Verlieren und sagt ihrem Schuldenberg und dem warnwestenorangen Räumungsbefehl Adieu, um langsam abzugleiten in die Untiefen obdachlosen Lebens. Eine Frau entflieht mit ihren Kindern der unerträglichen Hitze Floridas und begibt sich in der Normandie auf die Spuren Guy de Maupassant, über den sie seit Jahren ein Buch schreiben will, dessen Frauenfeindlichkeit ihr jedoch immer unerträglicher wird.
Groff beschreibt ihre zum Großteil weiblichen Protagonistinnen mit allen Tiefen und Widersprüchen. Häufig sind die Kinder eine Belastung und halten die Frauen von ihren eigenen Interessen ab. Doch diese Empfindung wird begleitet von Schuldgefühlen, die in abrupte Wiedergutmachungshandlungen münden, die die Kinder verwirren. Die beiden Jungen, die in der Normandie ständig frieren und überhaupt nicht dort sein möchten, werden mit Galettes und Pizza beruhigt, während die Mutter selbiges mit viel Wein versucht.
Voller Wut sind diese Frauen, gleichzeitig tragen sie tradierte Erwartungen mit sich herum, die sie abschütteln möchten.
Lauren Groff, die mit ihrem Roman Licht und Zorn auf der Shortlist des National Book Awards stand und die für den hier vorliegenden Erzählband den Story Prize 2018 erhielt, versteht es meisterinnenhaft, ihr Personal in Situationen zu stellen, aus denen sie durch sich selbst oder durch andere gerettet werden müssen. Die RetterInnen wiederum wirken bedrohlich und nicht leicht einschätzbar.
In jeder Geschichte fiebert die Leserin, ob ein gutes Ende überhaupt gelingen kann.
Mit viel Humor und großem Realitätssinn zeichnet die Autorin die Kinder, die vieles, was ungewöhnlich ist, viel eher hinnehmen, als es Erwachsene tun.
Rätselhafte Titel laden zum Lesen ein: Geister und Leerstände, Wolf werden, In den imaginären Winkeln der runden Welt.
Empathisch und sinnlich, aber auch mit einem rücksichtslosen und alles offen legenden Blick sind diese Erzählungen geschrieben und von Stefanie Jacobs glänzend übersetzt worden. Dabei ist eine der wichtigsten Protagonistinnen stets anwesend und fungiert als Spiegel des Innenlebens: die Natur Floridas. Die drückende Hitze, die Gefahr von Giftschlangen und des Florida-Panthers, Alligatoren am Seeufer und Moskitos in der Nacht sind allgegenwärtig, so dass eine flirrende, beängstigende und bedrohliche Atmosphäre entsteht. Stürme rasen ums Haus und zertrümmern alles, was sich ihnen in den Weg stellt – ähnlich wie bei der Joggerin in der ersten Geschichte, deren Mann eines Tages leise sagt: Ich glaube, es ist noch nicht ganz weg, Liebling, vielleicht drehst du besser noch eine Runde.
AVIVA-Tipp: Unbedingt lesen! Jede der Florida-Erzählungen von Lauren Groff ist ein kleiner Roman mit einer unglaublich spannenden Geschichte. Die Vielschichtigkeit und die Widersprüchlichkeiten der Protagonistinnen, die oftmals gewalttätigen Wetter- und Naturphänomene machen den Band zu einer höchst aufregenden Leseerfahrung.
Zur Autorin: Lauren Groff wurde 1978 in Cooperstown im Staat New York geboren. Sie studierte am Amherst College und an der University of Wisconsin. Ihr erster, 2008 erschienener Roman The Monsters of Templeton (dt. u.d.T. Die Monster von Templeton, 2009) stand auf der Shortlist des Orange Prize for New Writers. 2009 folgte der Erzählband Delicate Edible Birds. Ihr Roman Arcadia wurde als New York Times Notable Book ausgezeichnet und gewann den Medici Book Club Prize. Es erschien 2013 unter demselben Titel auf Deutsch. Es folgte der Roman Fates and Furies (deutsch: Licht und Zorn). 2017 wurde Groff 2017 vom Granta-Magazin zur besten amerikanischen Nachwuchsschriftstellerin ernannt. Sie lebt in Gainesville, Florida.
Mehr zur Autorin: laurengroff.com
Zur Übersetzerin: Stefanie Jacobs, geboren 1981, studierte in Düsseldorf Literaturübersetzung für die Sprachen Englisch und Französisch. Für ihre Arbeiten wurde sie mit zahlreichen Arbeitsstipendien gefördert. Sie übersetzte Autorinnen und Autoren wie Emily Ruskovich, Miranda July, Lauren Groff, Edna O´Brien und Anthony Marra sowie Musiker wie Nick Cave und Neil Young. Stefanie Jacobs lebt in Wuppertal.
Mehr zur Ãœbersetzerin: www.stefanieroeder.de
Lauren Groff
Florida
Originaltitel: Florida (2018)
Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs
Hanser Berlin, erschienen im Oktober 2019
288 S., gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-446-26410-6
22,00 €
Mehr zum Buch: www.hanser-literaturverlage.de
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