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Beitrag vom 20.01.2020
Die letzten Berliner Veit Simons
Judith Kessler
"Die letzten Berliner Veit Simons: Holocaust, Geschlecht und das Ende des deutsch-jüdischen Bürgertums" lautet der Titel des Buches von Anna Hájková und Maria von der Heydt, das die Geschichte der ehemals bekannten alteingesessenen Berliner jüdischen wie deutschen Familie erzählt. Deren Vorfahren …
... waren im 17. Jahrhundert nach Berlin gekommen und hatten hier später unter Friedrich dem Großen das ständige Aufenthaltsrecht erlangt.
Die Familie war wirtschaftlich erfolgreich, ihr Bankhaus bestand bis zur NS-Zeit fast hundert Jahre und Hermann Veit Simon, mit dem die Geschichte im Prinzip beginnt, war einer der erfolgreichsten Rechtsanwälte der Stadt, der sich zudem als Begründer der "statischen Bilanzlehre" einen Namen machte und Vorstand der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums war. Durch diverse Heiraten waren die Veit Simons mit anderen etablierten jüdischen Familien verbunden, so den Warburgs, den Liebermanns und den Oppenheims.
Hermann und seine Frau Hedwig bekamen vier Kinder – die zwei Mädchen waren durch eine Maserninfektion in der Kindheit schwerhörig geworden und blieben unverheiratet, für sie wurde in Gransee ein Haus gebaut, der Katharinenhof, auf dem sie eine kleine Landwirtschaft betrieben. Einer der beiden Söhne nahm sich früh das Leben, der andere, Heinrich, studierte Jura, promovierte und wollte Irmgard Gabriel heiraten, die nichtjüdische Tochter des Jugendfreundes seines Vaters. Der Vater war dagegen. Doch in dem Moment, wo Irmgard volljährig wurde, heirateten beide.
Nach dem Tod Hermann Veit Simons wurde Heinrich zum Familienoberhaupt und wie sein Vater ein äußerst erfolgreicher Rechtsanwalt und Notar, der eine Kanzlei am Pariser Platz betrieb. Heinrich und Irmgard bekamen sechs Kinder, Harro, Ruth, Ulla, Rolf, Etta und Judith. Und obwohl Irmgard nach der Heirat protestantisch geblieben war, erzog sie die Kinder jüdisch. Die Familie war mit dem liberalen Rabbiner Leo Baeck befreundet und Heinrich saß wie schon sein Vater im Vorstand der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums.
Dann kommen die Nazis an die Macht. Heinrich Veit Simon darf zwar zunächst seine Anwaltszulassung behalten, doch das Notariat verliert und auch seine nichtjüdischen Sozien trennen sich von ihm. Dann geht es Schlag auf Schlag. Die Autorinnen beschreiben, wie die Familie erst ihre Villa verkaufen muss, dann versucht, ihre Kinder im Ausland unterzubringen, was bei Vieren auch gelingt und wie sie langsam alles verliert – Wohlstand, Ansehen, Zukunftsaussichten, und zum Teil ihr nacktes Leben. Heinrich, der Vater, der renommierte Anwalt, wird in der Gestapohaft zu Tode geprügelt, Sohn Rolf und seine Frauen werden aus den Niederlanden deportiert und ermordet. Die beiden in Deutschland gebliebenen Töchter Ruth und Etta werden nach Theresienstadt deportiert. Aus dem ganzen hundertköpfigen Transport erleben nur vier Menschen die Befreiung 1945, unter ihnen Etta.
Die starke, gewitzte und pragmatische Etta, die schon nach dem Mord an ihrem Vater die Rolle des Familienoberhauptes übernommen hatte, arbeitet als Zeichnerin im Ghetto, sie unterstützt andere und tröstet in Briefen sogar noch ihre verzweifelte trauernde Mutter, die allein in Berlin geblieben ist. Sie verschweigt ihr in ihren Briefen zunächst, dass ihre Schwester Ruth an Tuberkulose gestorben ist, und auch, dass die Großmutter und die Onkel und Tanten nicht mehr leben. Ein Teil des Briefwechsels zwischen ihr und ihrer Mutter, die in dieser Zeit Berliner Juden half zu überleben (während ihr Bruder als Generalstaatsanwalt des Protektorats Böhmen und Mähren fleißig Todesurteile unterzeichnete), ist erhalten und in dem Büchlein abgedruckt, das mit dem schwierigen Neuanfang der wenigen Überlebenden der Familie Veit Simon nach dem Krieg endet.
AVIVA-Tipp: Wer in dem Buch allerdings eine besonders transnationale Geschichtsschreibung oder Genderperspektive erwartet, wie Untertitel und Einleitung vermuten lassen, wird nicht wirklich fündig. Es ist die Geschichte einer (vergessenen) Familie, die einmalig ist wie jede Familiengeschichte und zugleich typisch für sehr viele andere jüdisch-deutsche Schicksale im 20. Jahrhundert und so erzählens- wie erinnernswert.
Zu den Autorinnen:
Dr. Anna Hájková ist Associate Professor an der University of Warwick und Dr. Maria von der Heydt ist Partnerin der Berliner Anwaltskanzlei Heinichen & Laudien. Sie forscht über die deutschen "Geltungsjuden" im Holocaust.
Die letzten Berliner Veit Simons: Holocaust, Geschlecht und das Ende des deutsch-jüdischen Bürgertums
Anna Hájková, Maria von der Heydt
Henrich & Hentrich, erschienen 2019
Sprache: Deutsch
140 Seiten, Klappenbroschur, 49 Abbildungen
ISBN: 978-3-95565-301-9
17,90 €
Mehr zum Buch, Ausgabe auf Deutsch: www.hentrichhentrich.de
The Last Veit Simons from Berlin
Holocaust, Gender, and the End of the German-Jewish Bourgeoisie
Anna Hájková, Maria von der Heydt
Ãœbersetzung: Justus von Widekind and Jos Porath
Henrich & Hentrich, erschienen 2019
Sprache: Englisch
140 Seiten, Klappenbroschur, 49 Abbildungen
ISBN: 978-3-95565-316-3
2019
17,90 €
Mehr zum Buch, Ausgabe auf Englisch: www.hentrichhentrich.de
Mehr Informationen zu Dr. Heinrich Veit Simon unter: www.stolpersteine-berlin.de
Mehr Informationen zu Ruth Agnes Veit Simon unter: www.stolpersteine-berlin.de
Mehr Informationen zu Etta Ottilie Veit Simon unter: www.stolpersteine-berlin.de
Mehr Informationen zu Hedwig Simon (geb. Stettiner) unter: www.stolpersteine-berlin.de
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